Die Drachen von Montesecco
beratschlagten jetzt ziemlich lautstark, aber da der Wind aus Mamadous Richtung kam, konnte er nichts verstehen. Er sah zwei der Männer zur Straße zurücklaufen. Kurz danach tauchte eines der Autos, ein blauer Fiat, hinter der Böschung auf. Es fuhr Richtung Cagli, bog aber schon nach zweihundert Metern links auf einen Feldweg ab, der am westlichen Rand des Waldstücks, in dem sich Mamadou verbarg, vorbeiführte. Der Rest der Männer schwärmte aus. Einer folgte der Spur, die Mamadou im nassen Gras hinterlassen hatte, die anderen pirschten im Abstand von jeweils etwa dreißig Metern in dieselbe Richtung. Auf den Waldrand zu. Ihre Gewehre zeigten nach schräg unten. Mamadou zweifelte nicht, daß sie geladen waren.
Erst jetzt begriff er, daß er selbst das Wild war, auf das es die Jäger abgesehen hatten. Er war ein Mensch, und sie waren Menschenjäger, die sich einen Dreck um Beginn oder Ende irgendeiner Jagdsaison scherten. Sie wollten ihn aufspüren, hetzen, einkreisen, stellen, töten. Sie gönnten ihm sein Wunder nicht, sie wollten ihm alles nehmen, was er hatte. Seine Zukunft, seine Träume, sein Leben. All das, was er erst gestern in Urbino wiedergefunden hatte.
Mamadou witterte. Obwohl der Wind aus der falschen Richtung kam, glaubte er ihre Ausdünstungen, ihr Jagdfieber, ihre Mordlust zu riechen. Mit ihnen zu reden hatte keinen Sinn. Sollte er sich in eine Erdkuhle pressen wie ein Gazellenjunges und bewegungslos liegenbleiben, bis sieum ihn herumstanden und gar nicht mehr vorbeischießen konnten? Mamadou zog die Koffer an sich und schlich geduckt in den Wald hinein. Er hoffte, daß ihm das Buschwerk am Waldrand genügend Sichtschutz bieten würde, doch er hatte noch keine fünf Schritte getan, als er einen der Jäger erregt rufen hörte: »Da ist er! Auf elf Uhr!«
Mamadou verharrte in der Bewegung, als hätte ihn ein Schuß getroffen. Einen winzigen Moment stand er still, gerade lang genug, daß sich die Panik auch der letzten Faser seines Körpers bemächtigte und ihm befahl, um sein Leben zu laufen. Mamadou sprintete schneller, als je ein Mensch mit zwei Koffern durch einen dichten Wald gelaufen war. Er brach durchs Gebüsch wie ein verwundeter Büffel, schrammte an knorrigen Baumstämmen vorbei, achtete nicht auf die Zweige, die ihm das Gesicht blutig peitschten, hörte kaum, wie die morschen Äste unter seinen Sohlen knackten, weil sein eigenes Keuchen ihm überlaut in den Ohren klang.
Rechts vor ihm tauchte eine grüne Jacke zwischen den Stämmen auf. Das war einer der Menschenjäger, die ihn mit dem Auto umfahren hatten! Mamadou schlug einen Haken, spurtete Richtung Westen, den Hügel hinan, schräg an der Front seiner ursprünglichen Verfolger entlang, die nun auch in den Wald eingedrungen waren und ihm den Weg abschneiden konnten, wenn er nicht viel schneller lief. Die Stimmen der Jäger wurden lauter und schienen von überallher zu kommen. Es waren kurze, kehlige Rufe, die für Mamadou wie das Bellen von Bluthunden klangen. Sie würden ihn zerfleischen, wenn er nicht rannte.
Er rannte, und ein Gewehrschuß knallte. Mamadou wußte nicht, ob sie auf ihn gezielt oder in die Luft geschossen hatten. Ob der Schuß vor oder hinter ihm, links oder rechts gefallen war. Er hetzte vorwärts. Seine Lunge zersprang, doch er rannte weiter. Wozu brauchte er eine Lunge, wenn er zwei Beine hatte, die Riesensätze machten,obwohl er sie nicht mehr spürte? Und dann hakte er doch in einer Wurzel ein, stolperte, fiel. Mamadou schmeckte Blut in seinem Mund, seine linke Hand krallte sich in den feuchten Waldboden und …
Verdammt, wo war der zweite Koffer? Mamadou rappelte sich auf, sein rechtes Bein knickte über dem Schmerz, der durch das Knie stach, doch er schleppte sich ein paar Meter zurück und fischte den Koffer aus einem Dornengestrüpp. Es waren seine Koffer, seine Zukunft. Ohne sie war er nichts. Wenn er sie jetzt zurückließ, hatte sich sein Wunder nie ereignet. Dann existierten gar keine Wunder, die aus einem Niemand einen Menschen machten, dann würde alles auf ewig so bleiben, wie es war.
Mamadou keuchte. Er horchte. Von allen Seiten knackte der Wald, raschelten Blätter, näherten sich seine Verfolger. Schon konnte Mamadou zwei von ihnen sehen, nein, drei. Huschende Gestalten mit Gewehren im Anschlag. Mamadou versuchte noch irgendwo eine Lücke ausfindig zu machen, durch die er entkommen konnte. Vielleicht da, Richtung Nordwesten. Er tat einen Schritt. Tausend Messer stachen durch sein rechtes
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