Die Drachen von Montesecco
diesmal. Mamadou blieb stehen. Von irgendwoher zwitscherte eine Amsel, der Wind säuselte, und über denHügel schwebte langsam und völlig geräuschlos die silberfarbene Kugel heran. Ein Ballon, der genau auf Mamadou zuhielt, als sei gerade er auserwählt unter all den Menschen, die dieses Land bewohnten. Das mußte das Zeichen sein, auf das er gewartet hatte!
Mamadou sah sich um. Weit und breit war niemand. Er kniff die Augen ein wenig zusammen und fixierte den Ballon. An seinem unteren Ende hing ein mit Seilen befestigter Korb, der gerade einen hohen Baumwipfel streifte: Mamadou konnte nicht erkennen, ob ein Mensch darin saß, doch er bezweifelte es. Was immer da ankommen mochte, ging nur ihn etwas an. Er verließ die Straße, überkletterte die Böschung und stapfte über die nasse Wiese dem Ballon entgegen, der seinen Korb mit Mühe durch die Zweige der letzten Baumreihen am Waldrand zerrte und über dem freien Feld schnell weitersank. Er war jetzt nur noch fünfzig Meter entfernt. Mamadou blieb stehen. Ihm schien es ganz selbstverständlich, daß der Korb ein Dutzend Schritte vor ihm aufschlug und von dem langsamer werdenden Ballon durchs Gras zu ihm geschleift wurde. Er brauchte nur den Rand des Korbs festzuhalten. Der silberne Ballon über ihm beugte sich mit dem Wind, und auch Mamadou neigte den Kopf. Er flüsterte: »Mein Name ist Mamadou Thiam, ich bin zwanzig Jahre alt, stamme aus Saint Louis im Senegal und bin nach Italien gekommen, um ein Wunder zu erleben.«
Er fragte sich, wieso er gerade jetzt an seine Familie in Westafrika denken mußte. Vielleicht, weil sein Wunder von fern durch die Luft herangeflogen war? Mamadou blickte in den Korb des Ballons. Darin befanden sich zwei schwarze Koffer, die mit Riemen festgezurrt waren. Was könnte er sich nicht alles leisten, wenn die voller Geld wären! Seinen Eltern würde er eine Villa im besten Viertel Dakars bauen, seinen Schwestern, falls sie noch nicht verheiratet waren, eine fürstliche Aussteuer bereitstellen, ein Heim für Aids-Waisen würde er einrichten und nach seinem Bruder benennen. Über die abgelegensten Dörfer würde er fahren, und jedem Kind, das ihm den eigenen Namen sagte und fest daran glaubte, daß es ein Mensch sei, würde er die Schulausbildung oder zumindest eine Schneiderlehre bezahlen.
Mamadou löste die Riemen und hievte die beiden Koffer aus dem Ballonkorb. An ihrem Gewicht merkte er, daß sie nicht leer waren. Sein Herz pochte. Er preßte die Finger gegen die Schläfen und sagte sich, daß er nicht zuviel erwarten dürfe. Auch in Italien schwebten die Millionen nicht einfach vom Himmel herab. Das hatte er in den letzten anderthalb Jahren zur Genüge erfahren müssen. Er dachte an den Koffer, den er in Urbino mitsamt seiner alten Existenz zurückgelassen hatte. An die raubkopierten CDs mit fast aktuellen Hits und alten Schlagern, die oft genug die Wunder beschworen, die sich im Leben manchmal ereigneten. Nein, zuviel wollte er nicht erwarten, aber auch nicht zuwenig. Nicht jedem sank ein silberner Ballon mit zwei schwarzen Koffern vor die Füße. Vielleicht war Mamadou kein Mensch wie jeder andere. Vielleicht war er etwas ganz Besonderes.
Von der Straße her hörte Mamadou sich nähernde Autos. Er legte einen der Koffer flach auf den Boden und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Als hinter der Böschung Bremsen quietschten, zögerte er. Einmal, zweimal, dreimal erstarb Motorengeräusch. Autotüren schlugen, Stimmen flüsterten erregt. Die da angehalten hatten, konnten Mamadou genausowenig sehen wie er sie. Wahrscheinlich war ihnen der Ballon aufgefallen, der zwar nicht mehr steigen mochte, aber den um seinen Inhalt erleichterten Korb ein paar Dutzend Meter Richtung Straße weitergeschleift hatte.
Mamadou ließ die Verschlüsse wieder zuklicken und hob beide Koffer an. Sie gehörten ihm. Es war sein Wunder, und wenn ihm tatsächlich Millionen beschert würden, wie er es fast erwartete, dann war es allein seine Entscheidung, mit wem er teilen wollte. Mamadou schleppte die Koffer zum Waldrand. Hinter dichtem Unterholz stellte er sie ab und blickte zurück. Er zählte sieben Männer, die sich nach und nach um den Korb des Ballons versammelten. Sie hatten Gewehre dabei. Schwere Büchsen, wie man sie zur Jagd auf Wildschweine verwendete. Mamadou glaubte gehört zu haben, daß die Jagdsaison erst im November eröffnet werde, aber vielleicht täuschte er sich, denn ganz offensichtlich handelte es sich um eine Gruppe von Jägern.
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