Die Drachen von Montesecco
üblich einsilbig blieb, waren sie sich einig, daß Rom zwar durchaus mehr Sehenswürdigkeiten als Montesecco aufweisen mochte, aber leben wollten sie dennoch nicht hier. Nicht ums Verrecken. Curzio nahm einen Schluck Prosecco. Das Glas war schon fast leer, obwohl Benito praktisch nichts getrunken hatte. Curzio bestellte Nachschub. Und dann noch einmal. Draußen fiel schnell die Nacht herein, doch es wurde kaum dunkler. Straßenlaternen, Autoscheinwerfer, überall waren Lichter. Nur im sechsten Stock des Palazzo gegenüber erloschen sie.
»Los, Benito!« Curzio sprang auf und zahlte an der Kasse. Vielleicht verließ Wilma gerade ihre Wohnung. Dann könnten sie sie am Tor des Palazzo abfangen und brauchten nicht noch stundenlang zu warten. Vor der Bar toste der Autoverkehr schlimmer als zuvor. So etwas konnte man sich in Montesecco überhaupt nicht vorstellen. Curzio wurde ganz schwindelig. Oder lag das am vielen Prosecco? Gegenüber öffnete sich der Portone desPalazzo, und da wußte Curzio, daß er zweifelsohne zuviel getrunken hatte. Er hatte eine Vision. Eine Sinnestäuschung. Er sah Dinge, die es nicht gab. Er sah plötzlich Personen, die gar nicht hier sein konnten.
»Sag, daß ich mir das nur einbilde, Benito!« sagte Curzio. Er starrte auf die gegenüberliegende Straßenseite.
»Das bildest du dir nur ein«, sagte Benito.
»Aber schau doch genau hin!«
»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Benito, »wenn du jetzt schon Visionen …«
»Siehst du ihn, oder siehst du ihn nicht?«
»Nein. Ich sehe ihn nicht.«
»Wen? Wen siehst du nicht?« fragte Curzio mißtrauisch. Er wußte nicht, ob er seinen Augen oder seinem Freund trauen sollte.
»Na, den alten Marcantoni.«
»Woher weißt du, daß ich von Franco Marcantoni spreche, wenn du ihn nicht siehst?«
»Weil er ihm ein wenig ähnlich sieht«, sagte Benito.
Das war natürlich möglich. Vielleicht sah der alte Mann, der mit einer rothaarigen Schönheit den Palazzo verlassen hatte und nun neben ihr her trippelte, nur so aus wie Franco Marcantoni. Aber wenn, dann ähnelten sie sich wie eineiige Zwillinge. Franco hatte aber nur zwei Schwestern, von denen die eine dement zu Hause saß und die andere um ihr Seelenheil fürchten würde, wenn sie mit einer Nutte durchs abendliche Rom spazierte. Und Franco hatte genausowenig hier verloren. Der alte Mann, der ihm so ähnlich sah, hakte sich nun bei der eleganten Dame unter. Sie warf die roten Locken zurück und schien aufzulachen. Nicht nur wegen der hochhackigen Pumps überragte sie den Alten um einen Kopf.
Das ungleiche Paar ging Richtung Kirche hoch und bog kurz vor dem Ende des Piazzale nach links in eine Garteneinfahrt ein, über der auf einem gemauerten Bogen »Trattoria Pallotta« stand. Curzio zerrte Benito ohne Rücksichtauf den Verkehr über die Fahrbahn. Er hörte keine Bremsen quietschen, achtete weder auf die Flüche im römischen Dialekt, die ihm hinterherschallten, noch auf Benitos empörte Frage, ob er sie beide umbringen wolle. Und wenn der Alte doch Franco Marcantoni war? Was wollte er hier bei einer der Nutten, die Benitos Testament unterschrieben hatten?
»Hast du mir irgend etwas zu sagen?« fragte Curzio. Benito schüttelte stumm den Kopf. Curzio zog ihn durch das Tor der Trattoria. »Seit 1820« stand dort steinern im Boden eingelassen. Sie zwängten sich durch die abgestellten Motorroller in einen Garten, der im Sommer idyllisch sein mußte. Jetzt waren die zu einem Schattendach gebundenen Zweige der alten Bäume fast kahl. Mit rotem Seidenpapier ummantelte Lampions beleuchteten die welken Blätter auf den Tischplatten. Die Stühle waren schräg an die Tische gelehnt. Vielleicht konnte man an einem sonnigen Mittag noch draußen essen, doch jetzt war es eindeutig zu kühl.
Im Haupthaus links des Gartens öffneten sich die Eingänge zu Bar und Küche. Der gut gefüllte Gastraum befand sich in dem langgestreckten Gebäude rechts. Durch die Glasfront sah Curzio den Franco-Doppelgänger samt Begleitung gleich neben dem Vorspeisenbuffet sitzen. Ein Kellner mit schütterem Haar und einem etwas schmuddeligen schwarzen Frack stellte ihnen gerade eine Karaffe Weißwein auf den Tisch.
Als Curzio die Tür öffnete, schlug ihm das Stimmengewirr der Gäste entgegen. Er hatte das Gefühl, daß Benito nur zögernd folgte, schritt aber entschlossen auf den Tisch neben dem Buffet zu. Der Alte sah zu ihm auf. Die wirren weißen Haare, die Hakennase zwischen den tiefliegenden Augen, die
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