Die Drachen von Montesecco
charakteristischen Falten in der wettergegerbten Haut, die Zahnruinen, als er vor Staunen den Mund aufklappte – es war unzweifelhaft Franco Marcantoni.
»Oh«, sagte Franco. »Was machst du denn hier, Gianmaria?« fragte er, blickte kurz zu der Schönen neben sich und dann wieder zurück zu Curzio. Er räusperte sich und sagte: »Kannst du dich an Signorina Camporesi erinnern, die damals in Montesecco …«
»Sie dürfen mich Wilma nennen«, sagte die junge Dame mit tiefer, sinnlicher Stimme. Sie lächelte Curzio an und strich sich die Locken zurück. Ihr leichter Silberblick konnte einen ganz nervös machen.
Curzio rückte Benito einen Stuhl zurecht und ließ sich selbst neben Franco nieder. Auf Wilmas Empfehlung bestellte er Saltimbocca und vorher gemischte Antipasti vom Buffet. Die Pasta ließ er aus. Benito aß überhaupt nichts, und auch Franco schien sein Ossobucco nicht zu schmecken, obwohl es ausgezeichnet aussah. Gegenüber dem dicken Wirt, der von Tisch zu Tisch ging und sich mehr drohend als besorgt erkundigte, ob alles zur Zufriedenheit der Kundschaft sei, schützte er eine Magenverstimmung vor.
Die Sprache hatte es ihm allerdings nicht verschlagen. Wortreich schwärmte er vom bezaubernden Wesen seiner Begleiterin, dem widerstehen zu wollen nicht nur unmöglich, sondern auch vollkommen widersinnig wäre, denn schließlich strebe jeder Mensch, egal welchen Alters und welcher Herkunft, nach Glück, und wenn ihm das in einer so atemberaubenden Gestalt über den Weg laufe, dann wisse er sehr wohl, was er zu tun habe, nämlich zuzugreifen, zuzugreifen und nochmals zuzugreifen.
Wilma lächelte säuerlich. Sie schien die Preisgabe pikanter Details zu befürchten, und so beeilte sich Curzio zu erklären, daß er das so genau gar nicht wissen wolle. Ihn interessierte die geschäftliche Grundlage dieser späten Liebe viel mehr. Als Franco darauf zu sprechen kam, daß er schon lange könne, was Benito Sgreccia in deutlich betagterem Alter gekonnt habe, sah Curzio die Gelegenheit gekommen, zumal Benito nicht mehr mit am Tisch saß. Er mußte sich davongestohlen haben, ohne daß Curzio esbemerkt hatte. Vielleicht war ihm die Situation peinlich erschienen.
»Benito hat allerdings für die Aufmerksamkeiten der drei Damen einiges hingeblättert«, sagte Curzio.
»Ich bin Geschäftsfrau«, sagte Wilma.
»Natürlich.« Curzio nickte. »Und Sie machen mit jedem Geschäfte, der …«
»Ich bin nicht jeder«, protestierte Franco.
»… mit jedem, der bezahlt. Oder bezahlen kann, denn Sie sind nicht billig.«
»Man muß wissen, was man wert ist.« Wilma lächelte in einer Weise, die man nur als eisig bezeichnen konnte.
»Sie sind sicher jeden Cent wert«, sagte Curzio. »Allerdings ist es mit Cents nicht getan. Ich frage mich, Franco, woher du das Geld hast.«
»Ersparnisse.« Franco wurde plötzlich ziemlich einsilbig.
»Franco!«
»Was?«
»Dazu hättest du irgendwann in deinem Leben mal sparen müssen«, sagte Curzio.
Franco nahm sein Weinglas, trank und stellte es wieder ab. Er sagte: »Vielleicht habe ich auch einen kleinen Kredit aufgenommen.«
»Bei wem?«
»Privat. Bei Bekannten.«
»Ich weiß gar nicht, wieso du dich dafür rechtfertigen mußt, tesorino«, sagte Wilma.
»Genau«, sagte Franco-Schätzchen. »Was geht dich das überhaupt an, Gianmaria?«
Ja, was ging das Curzio an? Er sah sich um. Der dicke Wirt saß im Kreis seiner Familie und stopfte eine riesige Portion Spaghetti in sich hinein. Der Kellner im Frack balancierte ein halbes Dutzend Teller mit Baccalà zwischen den Tischen durch. Geschickt wich er den beiden Kindern aus, die auf dem Steinboden ihre Autos entlangschoben.Ein Mann, der ein wenig wie der junge Adriano Celentano aussah, brüllte in sein Handy, sei es, um sich wichtig zu machen, sei es, um den Lärm vom Nebentisch zu übertönen, an dem man gerade ein Geburtstagskind hochleben ließ. Überall wurde gelacht und gegessen, getrunken und gestritten.
Zögernd begann Curzio zu erzählen, wie es sich anfühlt, lebendig begraben zu sein. Er erklärte, welche Tode er gestorben sei und daß er das Gefühl habe, in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod gefangen zu sein. Manchmal kämen ihm die Menschen um ihn herum unwirklicher vor als die Verstorbenen. Benito könne er zum Beispiel sehen, mit ihm könne er besser reden als mit jedem sonst. Und Benito habe er auch versprochen, daß sein Mörder nicht straflos davonkommen werde. Er sei sich eigentlich sicher, daß Angelo den
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