Die Drachen von Montesecco
mußte. Ein Nachteil von Montesecco bestand darin, daß sich die Warterei nicht in Restaurants, Diskotheken oder Einkaufszentren abspielte. Ein besonderer Nachteil dieses Jobs in Montesecco bestand darin, daß er sich Ende Oktober ergeben hatte. Wenn man schon unbedingt einen kleinen Jungen entführen mußte, konnte man das doch auch im Juli machen! Da fiel wenigstens keine eiskalte Tramontana aus den Alpen über einen her. Michele fror. Er betrachtete das glühende Ende der Marlboro und dachte, daß er zuviel rauchte. Das senkte die Körpertemperatur.
Michele drückte die Zigarette aus, stand auf und hüpfte auf der Stelle. Hunderttausend Euro hin oder her, die ganze Nacht würde er sich hier nicht um die Ohren schlagen. Eine Stunde noch. Höchstens. Es war sowieso unwahrscheinlich, daß eine seiner Zielpersonen Montesecco jetzt verließ. Zwar mußte der Junge versorgt werden, doch wenn Michele der Entführer gewesen wäre, hätte er das zu unauffälligeren Tageszeiten erledigt. Nein, er sollte lieber ins Bett gehen und sich am nächsten Morgen ausgeruht auf die Lauer legen.
Warum Michele zwei Stunden und vier Zigaretten später immer noch hinter seinem Busch stand, hätte er selbst nicht zu sagen gewußt. Irgendwann schien das Warten zur natürlichen Existenzform zu werden. Dumpf breitete es sich im Kopf aus und ließ alle möglichen Gedanken vorbeimarschieren, ohne daß Michele einen davon ergriff. Die neblige Nacht um ihn war nicht wirklicher als ein Strand auf Mauritius, die Wüsten Namibias oder sonstige exotische Szenerien, wie er sie aus dem Fernsehen kannte.
Als er sich gerade fragte, ob wohl jemand beruflich in der Welt herumreiste, nur um den geeigneten Schauplatz für einen Werbespot zu finden, hörte er das Motorengeräusch.An der Spitzkehre zerfächerten sich Lichtkegel in den Nebelschwaden. Dann brummten zwei Scheinwerfer durchs Dunkel herab auf Michele zu. Er ging in die Hocke und drückte sich tiefer in den Busch. An der Einmündung blieb der Wagen stehen, schon ein wenig nach rechts gedreht, was vermuten ließ, daß sich der Fahrer in Richtung Pergola wenden würde. Beim gleichen Winkel zur anderen Seite hin hätten die Scheinwerfer Michele voll erfaßt. Daran hatte er nicht gedacht, aber er hatte Glück gehabt. Unverschämtes Glück sogar, dachte er, als er beim Abbiegen des Wagens das Gesicht hinter der Seitenscheibe erkannte. Zielperson B verließ nachts um elf Uhr Montesecco!
Michele hastete die paar Schritte zu seinem Wagen hinab, startete den Motor und schaltete das Licht ein. Die Zielperson würde ihn im Rückspiegel wohl sehen, aber vermuten, daß er um die Biegung herum aus dem Tal gekommen war. Eigentlich konnte sie darin keine Gefahr vermuten. Michele hatte sowieso keine Wahl. Bei Dunkelheit und Nebel die Scheinwerfer auszuschalten hätte ihn mit Sicherheit im Straßengraben enden lassen. Er beschleunigte und fuhr so weit auf, daß er die Rücklichter gerade noch erkennen konnte. Solange die Zielperson auf der Hauptstraße blieb, konnte er im gleichen Abstand folgen, ohne groß Verdacht zu erregen.
Im Waldstück hinter der Abzweigung nach Magnoni verlor Michele das Zielfahrzeug kurzzeitig aus den Augen. Er zwang sich, nicht aufs Gas zu drücken, doch er spürte, daß ihn die Jagdleidenschaft gepackt hatte. Obwohl er sein Handy mit sich führte, dachte er nicht daran, jemanden anzurufen und um Verstärkung zu bitten. Erstens mußte er sich aufs Fahren konzentrieren, und zweitens war das hier seine Sache. Natürlich hatte er ein wenig Glück gehabt, aber das Glück winkte eben dem Tüchtigen. Er hatte einen Plan ausgearbeitet, er hatte sich auf die Lauer gelegt, und nun würde er sehen, was es mit dieser seltsamen nächtlichen Spazierfahrt auf sich hatte. Ob die Zielpersonihn zum Versteck des Lösegelds oder zum gefangenen Jungen oder sonstwohin führte. Hunderttausend Euro! dachte er.
Michele ging vom Gas, als vor ihm die Bremslichter des Wagens aufleuchteten. Ohne den Blinker zu setzen, bog die Zielperson links ab. Als Michele die Einmündung erreichte, sah er dem Wagen nach, der sich langsam einen steilen Feldweg hochquälte. Er selbst fuhr hundert Meter auf der Hauptstraße weiter, schaltete die Scheinwerfer aus und wendete. An der Einmündung blieb er stehen und kurbelte das Fenster herab. Feuchte Kälte drang herein. Vom Zielfahrzeug war nichts zu sehen. Selbst das Motorengeräusch hatte der Nebel verschluckt. Michele hatte keine Ahnung, wohin der Feldweg führte. Sollte er doch
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