Die Drachen von Montesecco
war doch noch nicht alles vorbei.
»Der schwarze Mann ist grausam und erbarmungslos«, flüsterte ich dem Jungen zu. »Wir haben nur eine Chance, wenn wir zusammenhalten.«
»Laß uns abhauen!« flüsterte der Junge.
»Darauf wartet er doch bloß.«
»Trotzdem!«
»Draußen ist dunkelste Nacht. Da siehst du den schwarzen Mann nicht einmal, wenn er direkt vor dir steht und mit seinem großen Messer …«
»Bleib bei mir!« Der Junge preßte den Kopf gegen meine Brust.
»Ich schalte jetzt die Taschenlampe ein und lege sie hier auf den Boden. Du setzt dich daneben und …«
»Nein!« Der Junge umklammerte mich so fest, daß es weh tat.
»Hör zu! Der schwarze Mann will dich umbringen.« Ich machte mich los und schob den Jungen von mir. »Und er wird dich umbringen, wenn du nicht genau das tust, was ich dir sage.«
Die Motorhaube des Zielfahrzeugs war noch warm. Michele schob den Kopf langsam nach oben, bis er darüber hinwegsehen konnte. Die Fenster des Hauses schienen fest vernagelt zu sein, aber an der Westseite war ein Teil des Dachs eingestürzt. Ein schwacher Schein zuckte über die Bruchkante der Dachlatten. Die Zielperson mußte sich sicher fühlen, wenn sie Licht anmachte, auch wenn es sich wohl nur um eine Taschenlampe handelte. Michele konnte leise Stimmen hören. Er war nun sicher, daß er nicht bemerkt worden war.
Er entspannte sich ein wenig, kam sich fast lächerlich vor mit dem schweren Wagenheber, den er in Ermangelung einer anderen Waffe aus dem Kofferraum geholt hatte. Dennoch war es sicher nicht verkehrt, auf alles vorbereitet zu sein. Er klemmte den Wagenheber unter den Arm, richtete sich auf und schlich an der Hausmauer entlang. Trotz der Vernagelung duckte er sich unter den Fensteröffnungen durch. Vorsichtig blickte er ums Eck auf die Seite, an der sich der Hauseingang befand. Die Tür stand einen Spalt offen. Der Lichtschein, der herausfiel,beleuchtete drei Steinstufen vor der Türschwelle und verlor sich dann in der Nacht. Michele tastete sich längs der Mauer näher heran. Knapp vor der Tür blieb er stehen und horchte. Drinnen weinte jemand. Es klang nach einem kleinen Jungen. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Von der Zielperson war nichts zu hören.
Das gefiel Michele nicht. Der schluchzende Junge, die halbgeöffnete Tür, die offensichtlich auf die Tür gerichtete Taschenlampe – alles sah aus, als wolle ihn die Zielperson einladen hereinzukommen. Als ob sie schon auf ihn wartete. Es konnte eine verdammte Falle sein. Michele spürte die Bruchsteine der Mauer in seinem Rücken. Das einzig Vernünftige war, zum Auto zurückzuschleichen und mit dem Handy Hilfe anzufordern. Das würde Michele auch gleich tun. Wenn ihm nichts Besseres einfiel. Er mußte nichts übereilen. Hier draußen war er im Vorteil. Er würde hören, wenn sich jemand der Tür näherte, er würde die Zielperson im Schein der Taschenlampe gut sehen, und bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, könnte er die Sache zehnmal erledigen. Michele umgriff den Wagenheber fest mit beiden Händen. Er hatte Zeit, und er war gar nicht allein. Die Nacht war seine Verbündete. Die Bäume ein paar Meter vor ihm streckten ihre schwarzen Finger gegen den unsichtbaren Sternenhimmel aus, als ob sie darum flehten, nicht im Nebel ertrinken zu müssen. Michele sah zu, wie die Schwaden vom Tal heraufzogen. Es hätte eine frische Brise gebraucht, um sie zu zerstreuen, aber kein Lufthauch regte sich.
Daß die Taschenlampe direkt auf die Tür leuchtete, konnte natürlich auch Zufall sein. Und ob die Tür offenstand oder verschlossen war, machte keinen großen Unterschied. Ein verängstigter kleiner Junge würde nicht mitten in der Nacht in die Wildnis fliehen. Das wußte die Zielperson ganz genau. Die halbgeöffnete Tür konnte genausogut ein Indiz dafür sein, daß sie sich völlig sicher fühlte. Vielleicht wollte Michele nur eine Falle ahnen, weiler zu feige war, endlich etwas zu unternehmen. Zu dumm, um zuzupacken, wenn hunderttausend Euro praktisch in Griffweite lagen. Michele schob sich noch ein wenig näher an die Türöffnung heran. Wenn er jetzt den Kopf neigte, könnte er hineinsehen. Der Wagenheber lag schwer in seinen Händen. Drei Steinstufen führten zur Schwelle hoch. Der Nebel war jetzt überall. Wenn Michele ein paar Schritte vom Haus weg tat, würde er von ihm verschluckt werden. Ausgelöscht für den Rest der Welt.
Eine ganz unbegreifliche Angst schnürte Michele plötzlich die Kehle zu. Eine Angst, die ihn
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