Die Drachen von Montesecco
ersticken würde, wenn er nicht sofort etwas dagegen unternahm. Wenn er nicht endlich handelte. Kalt und entschlossen. Und Michele schlug los. Er sprang nach vorn, holte aus und hämmerte mit einem gezielten Schlag des Wagenhebers die Tür auf, so daß sie gegen die Mauer krachte und wieder zurückschlug, doch da hatte Michele schon in einem Satz die Stufen überwunden, war so schnell durch den Lichtkegel der Taschenlampe auf die andere Seite des Raums geflogen, daß ihn nach menschlichem Ermessen jeder für einen Blitz halten mußte, der so nah einschlug, daß gleichzeitig der Donner aufbrüllte, den seine wie durch ein Wunder wieder freie Kehle herausstieß, und schon war Michele im schützenden Dunkel der gegenüberliegenden Ecke, fegte mit zwei Fußtritten die dort aufgereihten Papierdrachen zur Seite, preßte den Rücken gegen die rauhe Wand und hielt den Wagenheber vor sich wie ein Samuraischwert. Die Eingangstür war zugeschlagen. Auf ihrem Holz zeichnete sich ein heller Halbkreis mit fast unmerklich eingedellten Rändern ab. Der Lichtkegel auf dem Steinboden verjüngte sich zur Taschenlampe hin, hinter der der Junge saß. Michele konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen, doch er wußte, daß der Junge zutiefst verzweifelt und zu Tode erschrocken sein mußte.
Unwillkürlich kamen Michele seine eigenen Kinder in den Sinn, Dafne und der kleine Eros, die jetzt hoffentlichselig schlummerten und friedlich träumten, seinetwegen sogar von irgendeinem neuen Schnickschnack, den er ihnen zu finanzieren hatte, aber das war schließlich seine Aufgabe, er war ihr Vater, er war erwachsen und wußte, daß hunderttausend Euro eine schöne Summe waren, aber längst nicht so wichtig, wie kleine Kinder vor skrupellosen Verbrechern zu schützen und ihnen seelische Qualen zu ersparen, mit denen sie nicht klarkommen konnten. Er spürte, wie die Wut in ihm die Angst, die Anspannung und alles, was ihn gerade noch beherrscht hatte, überwältigte, und er wunderte sich, wie kalt seine Stimme klang, als er sagte: »Jetzt ist endgültig Schluß!«
Es war der Privatdetektiv. Er stürmte herein, als wäre er bei einer militärischen Spezialeinheit ausgebildet worden, aber wie er dort in der Ecke wild um sich blickte, dunkel gekleidet, die schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, ähnelte er verblüffend dem schwarzen Mann, den mir der Junge beschrieben hatte. Manchmal werden erfundene Geschichten eben doch wahr. Wahrer vielleicht als das, was man Tag für Tag in den Zeitungen liest. Oder was in Polizeistationen ermittelt und im Gerichtssaal beschworen wird.
»Verschwinde!« zischte ich dem schwarzen Mann zu. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, daß ich über ihm im Dachgebälk hockte. Ich hätte mehr als genug Zeit gehabt, um die Heugabel auf ihn herunterfahren zu lassen. Vier messerscharfe, dreißig Zentimeter lange, leicht gebogene Eisenspitzen, die Haut und Fleisch wie Butter durchdrungen hätten.
Der schwarze Mann hob den Wagenheber höher, wohl um einen Stoß abfangen zu können. Wahrscheinlich sah er von mir nicht mehr als einen Schatten oder die nach unten gerichtete Heugabel, aus deren Reichweite er sich nur langsam nach links bewegte. Auf die Taschenlampe zu. Dort hockte der Junge auf dem Boden, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als sei er gefesselt.
»Laß den Jungen in Ruhe!« befahl ich von oben.
Der schwarze Mann machte einen Schritt zurück, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er knurrte etwas Unverständliches. Ich hatte schon geahnt, daß man mit ihm nicht reden konnte. Er hatte seine festen Vorstellungen, von denen er nicht abweichen würde, auch wenn ich ihm tausendmal erklärte, daß keineswegs ich den Jungen entführt hatte. Der schwarze Mann da unten würde nur lachen, wenn der Junge einen schwarzen Mann des Verbrechens bezichtigte. Ich wußte, daß er nicht auf mich hören würde, aber ich wollte mir selbst nicht vorwerfen müssen, daß ich ihn nicht ausreichend gewarnt hatte. Deshalb sagte ich noch einmal: »Keinen Schritt weiter, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Eine Mistgabel! Die Zielperson wollte ihn mit einer Mistgabel erstechen! Ihn oder den kleinen Jungen, der sich nicht gerührt und nichts gesagt hatte, als wäre er schon tot oder wüßte zumindest nicht, in welcher Gefahr er schwebte, nun, da die Zielperson nichts mehr zu verlieren hatte. Das stumme Entsetzen, in das der Junge versunken war, machte Michele fast wahnsinnig. Er selbst konnte sich wehren, aber der Junge saß da wie auf
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