Die Drachen von Montesecco
Ivan oder sonst jemanden anrufen, der die Gegend kannte? Michele nahm das Handy aus der Tasche, dachte an hunderttausend Euro und steckte es wieder weg. Er würde das alleine zu Ende bringen.
Am sichersten war wohl, dem Feldweg zu Fuß zu folgen. Aber das konnte sich hinziehen. Und was, wenn die Zielperson nur eine Abkürzung genommen hatte, die sie über die Hügelkette hinunter ins Nevola-Tal führte? Michele mußte dranbleiben.
Er gab Gas und fuhr ohne Licht den Feldweg hoch. Er starrte durch die Frontscheibe, daß die Augen schmerzten. Gott sei Dank riß der Nebel immer mehr auf, je höher Michele kam. Graue Fetzen schwebten nun wie mißgestaltete Gespenster durch die Nacht, tanzten um die schwarzen Büsche, die sich links und rechts aus dem Dunkel schälten. Der Weg war steil und schlecht. Es war unwahrscheinlich, daß man ihn als Abkürzung benutzte. Es sah eher so aus, als ob man ihn überhaupt selten benutzte. Nur wenn es um sehr viel Geld ging. Michele wußte, daß er richtig war.
Wenn nur sein Wagen im ersten Gang nicht so laut dröhnen würde! Michele stierte nach vorn. Bisher hatte erGlück gehabt, und nun brauchte er eben noch ein wenig mehr, damit ihn die Zielperson nicht kommen hörte. Er schaltete in den zweiten Gang, als der Weg nach rechts bog und die Steigung etwas flacher wurde. Gleich mußte er den Kamm erreicht haben. War nicht der schwarze Felsen, der dort oben rechteckig …?
Michele trat die Bremse fast durchs Bodenblech. Seine Hand tastete nach dem Zündschlüssel. Er stellte den Motor ab.
Ein Haus. Da vorn stand ein Haus.
Micheles Finger waren trotz der Handschuhe ein wenig klamm. Er legte sie fest ums Lenkrad. Das Haus war keine dreißig Meter entfernt. Es war unbeleuchtet und wirkte verlassen. Bis auf das Auto, das vor ihm abgestellt worden war und verdammt nach dem Wagen der Zielperson aussah. Auf diese Entfernung mußte sie Michele gehört haben. Wenn sie nicht taub war. Oder sich so intensiv mit dem Geld beschäftigte, daß sie nicht einmal ein Erdbeben bemerkt hätte. Michele zählte langsam bis dreißig. Nichts rührte sich. Er begann von vorn und zählte bis sechzig. Bis hunderttausend fehlten noch neunundneunzigtausendneunhundertvierzig. Das war jede Menge. Langsam begann Michele zu glauben, daß ihm das Glück diese Nacht mehr als wohlgesonnen war. Ein klein wenig könnte er es noch strapazieren. Und was sollte ihm schon geschehen? Er war eins achtzig groß und gut in Form. Er hatte fünfzehn Jahre Berufserfahrung. Und er würde sehr, sehr achtsam sein.
Michele legte sein Handy auf den Beifahrersitz. Wenn er sich anpirschen müßte, würde er es eh nur verlieren. Er zog die Wollmütze tief in die Stirn und öffnete so leise wie möglich die Autotür.
»Hörst du den Wagen?« flüsterte ich und knipste die Taschenlampe aus. Sie hatten mich doch verfolgt. Ich hatte gleich so ein ungutes Gefühl gehabt.
»Ist das der schwarze Mann?« Die Stimme des Jungen zitterte.
»Wer sonst? Oder denkst du, irgendein Märchenprinz kommt, um dich zu retten?«
»Es gibt keine Märchenprinzen.«
»Eben«, sagte ich. Es war zu spät, um abzuhauen. Es wäre auch sinnlos gewesen. Wer immer die Kerle da draußen waren, sie hatten mich gezielt verfolgt. Sie wußten alles. Nur das Versteck des Jungen hatte ihnen noch gefehlt, bis ich selbst so blöd war, sie herzuführen. Gut, dann war es eben vorbei. Einen Versuch war es wert gewesen. Ich wunderte mich, wie ruhig ich war.
»Märchen sind bloß erfundene Geschichten«, sagte der Junge.
»Aber der schwarze Mann da draußen ist verdammt echt, das kannst du mir glauben«, sagte ich. Seitdem der Motor des Wagens abgestellt worden war, rührte sich nichts mehr. Ich fragte mich, worauf sie warteten. Sie konnten doch nicht annehmen, daß sie unbemerkt geblieben waren. Hatten sie keine Angst, daß ich dem Jungen etwas antun könnte? Warum stürzten sie nicht aus dem Auto und stürmten das Haus? Das paßte überhaupt nicht zu den Leuten aus Montesecco.
»Beschützt du mich?« Der Junge drückte sich an mich. Ich konnte spüren, wie seine Glieder bebten.
Nein, die da draußen, das waren Fremde, die glaubten, sich vor mir in acht nehmen zu müssen. Vielleicht, weil sie gar nicht in der Übermacht waren? Weil da nur ein einzelner herumschlich, der keineswegs alles wußte, sondern mich auf gut Glück verfolgt hatte? Und der deswegen auch niemanden darüber informiert hatte. Ich tippte auf den Privatdetektiv, der von Ivan engagiert worden war. Vielleicht
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