Die Drachen von Montesecco
einem verstörten kleinen Jungen, den Michele unbedingt retten mußte. Den er auf dem Rücken hinaustragen würde, genau wie er seinen eigenen Sohn durch dieWohnung reiten ließ, auch wenn das hier kein Spiel war, sondern blutiger Ernst.
Gleich würde er den Jungen in Sicherheit bringen. Einen Augenblick noch! Sobald das Blut aufhörte, zwischen seinen geschlossenen Fingern durchzudrücken. Sobald der Schwindel nachließ, der durch seinen Kopf tobte. Vielleicht täte es Michele gut, sich kurz auszuruhen, aber ihm graute vor der Sauerei auf dem Boden. Wenn er sich da hineinlegte, war seine Jacke beim Teufel. Die hatte hundertachtzig Euro gekostet und war so gut wie neu. Michele stöhnte. Es klang fremd. In seinen Ohren rauschte es wie Meeresbrandung. Ich pfeife auf die Jacke, dachte Michele. Dann war ihm auch alles andere egal. Langsam sank sein Körper in sich zusammen.
»Du hast ihn umgebracht!« sagte ich. Ich ließ die Heugabel fallen und kletterte vom Dachbalken herab. Der Junge drückte sich an die Mauer. Er hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen.
»Ist er wirklich tot?« fragte er mit dünner Stimme.
Der Körper des Privatdetektivs lag bewegungslos und verkrümmt in einer Blutlache. Um zu erkennen, daß da jede Hilfe zu spät kam, brauchte man kein Arzt zu sein. Ich wollte nach der Taschenlampe greifen, doch sie war voller Blutspritzer. Ich würgte. Gerade noch bekam ich den Brechreiz in den Griff. Ich mußte jetzt kühlen Kopf bewahren.
»Mausetot«, sagte ich. »Was glaubst du denn, was passiert, wenn du jemandem die Kehle durchschneidest?«
»Er wollte mich töten. Er war der schwarze Mann.« Der Junge ließ die Hände sinken. Sein Gesicht lag im Dunkel, aber man konnte trotzdem sehen, daß es leichenblaß war.
»Das dachte ich zuerst auch«, sagte ich.
Die Augen des Jungen waren nicht zu erkennen. Vielleicht hielt er sie geschlossen.
»Was glaubst du, warum ich ihn nicht gleich mit der Heugabel erstochen habe?« fragte ich.
»Was?«
»Schau her!« Obwohl ich wußte, daß mir wieder speiübel werden würde, zog ich dem Toten die Wollmütze vom Kopf. Ein blonder Haarschopf kam zum Vorschein. »Das ist Michele, ein Freund Ivan Garzones. Es ist nicht der schwarze Mann, den du umgebracht hast.«
»Liebst du mich noch?« fragte Marta Garzone.
»Was?« fragte Ivan Garzone. Hinter Datum und Uhrzeit trug er die Windgeschwindigkeit in sein Notizbuch ein: acht Komma neun Meter pro Sekunde. Das entsprach Windstärke fünf auf der Beaufort-Skala. Eine schöne frische Brise. So kalt, wie es sich für einen Nordwind gehörte. Ivan notierte: Tramontana.
Am Rand des Felds, das als Kernbereich des Ivan-Garzone-Windparks eingeplant war, hatte er auf einem behelfsmäßigen Gerüst das Anemometer aufgebaut. Auf dem Dach seiner Bar wäre es praktischer gewesen, aber natürlich gab es innerhalb des Orts Windschatten, Verwirbelungen, Mikroströmungen und andere Störfaktoren, die die Beweiskraft seiner Windstärkenmessungen vermindert hätten.
Bis hier hinaus zu marschieren machte Ivan auch nicht viel aus. Für die Wissenschaft brachte er gern ein kleines Opfer. Die paar Minuten, die er dafür täglich benötigte, hatte er sich nicht nehmen lassen, auch als in Montesecco der Teufel los war. Daß ihm seine Frau bis zur Meßstation nachlief, war aber noch nie vorgekommen. Für alles, was auch nur entfernt mit Windenergie zu tun hatte, interessierte sie sich eher mäßig.
»Was hast du gefragt?« Ivan überflog seine Aufzeichnungen. Der Mittelwert der letzten beiden Wochen übertraf seine Erwartungen.
»Ob du mich noch liebst?«
»Natürlich«, sagte Ivan und hoffte, daß Marta keine Grundsatzdiskussion beginnen wollte.
»Sieh mich an!« sagte Marta. Ivan blickte auf. Ihre Haare flatterten nicht gerade wild im Wind, wurden aber deutlich bewegt. Windstärke fünf eben. Ein paar hundert Meter hinter Marta, am Ortseingang, tauchte eine ganze Gruppe von Leuten auf. Wenn die auch noch herkamen, konnte Ivan seine Messungen für heute vergessen.
»Was wäre ein Grund für dich, Gigino und mich zu verlassen?« fragte Marta.
»Wie? Verlassen?« Ivan klappte sein Notizbuch zu. Da steckte doch irgend etwas im Busch. Solch eine Frage stellte man nicht einfach so.
»Was könnte dich dazu bringen, abzuhauen, uns hier allein zurückzulassen und irgendwo neu anzufangen?«
Die Gruppe aus dem Dorf bog am Holzkreuz von der Straße ab und näherte sich den Feldrain entlang. Offensichtlich hatten sie es eilig. Ivan konnte
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