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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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der Schlachtbank. Das konnte man gar nicht mit ansehen. Den Jungen mußte Michele zuerst retten. Danach konnte er an die Zielperson denken. Er würde sie von dem verdammten Dachbalken herunterbekommen, und wenn er das ganze Haus niederbrennen mußte. Doch zuerst den Jungen! Er mußte weg aus der Nähe dieses unmenschlichen Monsters da oben, keine Sekunde länger durfte er ihm ausgesetzt sein. Michele machte einen Schritt rückwärts. Er sagte: »Ich bringe dich hier heraus, Junge.«
    »Keinen Schritt weiter, wenn dir dein Leben lieb ist!« drohte die Zielperson aus dem Dunkel.
    Michele ließ den erhobenen Wagenheber ein wenig nach links und rechts schwingen. Er tat einen kleinen Schritt nach hinten. Seidenpapier raschelte unter seiner Sohle. Michele sagte: »Du machst genau das, was ich sage, Junge!«
    Die Taschenlampe beleuchtete die untere Hälfte der Tür. Die Zielperson war ein grauer Schatten, der im Dachgebälk lauerte. Michele wich einen Schritt zurück und sagte: »Steh jetzt auf und bleib hinter mir! Halte dich dicht an meinen Rücken!«
    »Ich kann nicht aufstehen«, sagte der Junge.
    Michele tastete mit dem linken Fuß nach hinten. Er berührte den Körper des Jungen. Der rührte sich nicht. Bis zur Tür waren es etwa vier Meter. Wenn Michele sich rechts des Taschenlampenstrahls hielt, blieb er außer Reichweite der Mistgabel. Doch was war, wenn die Zielperson sie als Harpune benutzte und auf ihn warf? Michele durfte den Wagenheber nicht aus den Händen legen. Langsam ging er in die Hocke und flüsterte nach hinten: »Leg deine Arme über meine Schultern und halte dich gut fest!«
    So trug Michele seinen Sohn oft durch die Wohnung. Sie hatten einen festen Parcours, von dem keinesfalls abgewichen werden durfte. Im Kinderzimmer stieg Eros auf und dirigierte Michele an der Wand entlang bis zur Tür. Durch den Flur standen ein paar Galoppsprünge an, der Eßtisch im Wohnzimmer mußte genau dreimal umrundet werden. Dann bockte Michele ein wenig und hüpfte im Zickzack zum Wohnzimmerfenster, wo er versuchte, Eros durch die vorbeifahrenden Autos abzulenken, so daß man ihn zum Absteigen bewegen konnte. Doch nun befand sich Michele nicht in seiner Wohnung in Rimini, und der Junge hinter ihm sagte tonlos: »Ich habe Angst.«
    »Nun mach schon!« befahl Michele. Das hier war kein Spiel. Es war blutiger Ernst. Der Schatten auf dem Dachbalken wirkte wie festgefroren. Michele bezweifelte, daß die Zielperson den Jungen und ihn widerstandslos gehen lassen würde. Er durfte sich nicht in Sicherheit wiegen, mußte auf jede kleinste Bewegung dort oben sofort reagieren. Michele spürte die linke Hand des Jungen von hinten über seine Schulter gleiten. Am Jackenkragen berührten die kleinen Finger seine Haut. Sie waren kalt.
    »Nicht am Hals!« sagte Michele. »Halte dich weiter unten fest!«
    Die Finger des Jungen krallten sich auf Brusthöhe in Micheles wattierte Jacke und zogen sie ein wenig nach unten.
    »Nun die andere Hand!« sagte Michele. »Und gut festha… !«
    Auch die rechte Hand des Jungen fuhr an Micheles Hals, doch sie fühlte sich ganz anders an. Viel glatter und härter und nur für einen ganz kurzen Moment kalt. War das ein zu langer Fingernagel, der von links nach rechts durchgezogen wurde? Michele fühlte keinen Schmerz, er begriff nur nicht, woher die Flüssigkeit kam, die ihm in warmen Stößen in den Kragen lief und sein Unterhemd an den Körper klebte. Er wollte etwas sagen, brachte aber bloß ein Gurgeln heraus, das nach Blut schmeckte, und er sah plötzlich ein Messer vor sich auf dem Boden liegen, das gerade eben noch nicht dagewesen war, ein Fahrtenmesser mit einer handspannenlangen rotverschmierten Klinge, auf die dicke dunkle Tropfen fielen, so als begänne ein Sommerregen, doch Michele verstand immer noch nicht, überlegte bloß, ob der Schein der Taschenlampe wohl ausreichen würde, um einen Regenbogen aufleuchten zu lassen, und erst als ihm der Wagenheber aus den Händen glitt und krachend auf den Stein polterte, faßte Michele nach oben, dorthin, wo eigentlich sein Hals sein müßte, aber nur ein tiefer, pulsierender, Blut spuckender Spalt klaffte.
    Michele fiel nach vorn auf die Knie, sah hinauf ins Gebälk, wo der Schatten unverändert kauerte und seine Mistgabel fest umklammerte, und er fragte sich, wie um alles in der Welt die Zielperson ihn erwischt hatte. Obwohl er sie immer im Auge gehabt hatte, mußte sie ihm irgendwie die Kehle durchgeschnitten haben. Sonst war ja niemand da. Außer

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