Die Drachen von Montesecco
Getöse, mit dem Ivans Projekte in sich zusammengestürzt waren, auch die Fundamente erzittern lassen, die sich die anderen Bewohner Monteseccos in den letzten Wochen gegossen hatten. Verstohlen musterten sie einander, wollten begreifen, ob es den anderen genauso ging, wandten sich aber sofort ab, sobald sich zwei Blicke kreuzten. Hoch oben scheuchte der Wind weiße Wolken über den Himmel, deren Größe sich nur durch die Schattenflächen ermessen ließ, die sich langsam über die Felder schoben. Und über die verschachtelten Dächer Monteseccos, die aus der Ferne an die Schuppen einer fremdartigen Echse erinnerten. An einen schlafenden, ruhig atmenden Drachen, dessen Panzer sich anzuheben schien, wenn die Schattengrenze darüber hinwegglitt.
Stockend gestand Marta, wie sie sich Schreibproben des verstorbenen Benito besorgt und das Testament nach Dutzenden Versuchen zufriedenstellend hinbekommen hatte. Eines Morgens sei sie mit dem Eurostar nach Rom gefahren, habe sich an der Stazione Termini die Unterschriften Wilmas und ihrer Kolleginnen geben lassen und sei eine halbe Stunde später schon wieder im Zug zurück nach Fabriano gesessen. Sie habe das Testament erst ins Haus der Sgreccias schmuggeln wollen, doch dann befürchtet, daß Angelo es verschwinden lassen würde. Als die Räumung des Pfarrhauses anstand, sei sie bei passender Gelegenheit hineingeschlichen und habe das Testament dort so deponiert, daß Lidia Marcantoni es finden mußte. Obwohl bis dahin alles glattgegangen sei, habe sie danach keine Nacht mehr ruhig schlafen können, und als Ivan sich mit Feuereifer auf die Modernisierung Monteseccos stürzte, habe sie gemerkt, daß sie und ihr Sohn in dem Leben, das Ivan sich vorstellte, nichts zählten. Sie habe begriffen, daß ihre Intrige zwecklos war, auch wenn sie gelänge. Es war egal, ob ihr Mann fremd neben ihr her lebte oder gleich in die Fremde abhaute. Und doch fürchtete sie nichts mehr, als daß er das tatsächlich tun könnte.
Als Minh verschwand, sei alles noch schlimmer geworden. Ohne genau sagen zu können, wieso, sei sie sicher gewesen, den Anstoß zur Entführung gegeben zu haben. So als sei das Verbrechen ein Bluthund, den sie losgekettet hatte und der jetzt wahllos und wütend um sich biß, nur um sich nicht wieder einfangen zu lassen. Sie habe weder den Mut noch die Kraft gefunden, ihre Tat rückgängig zu machen, habe sich hundertmal vorgenommen, Ivaneinzuweihen, doch nie das erste Wort über die Lippen gebracht. Schließlich habe sie nur noch darauf gewartet, daß sich die Erde auftun und sie verschlingen werde. Alles sei allein ihre Schuld, sie hoffe nur, daß Ivan und Gigino …
Marta brach ab und stellte sich hinter ihren Mann, der kleine Erdbrocken zwischen den Fingern zerkrümelte und nicht erkennen ließ, ob er auch nur ein Wort vernommen hatte. Die Dorfbewohner standen um sie herum. Vielleicht hallte in dem einen oder anderen noch die Stimmung nach, in der sie vor ein paar Minuten auf die Garzones zugestürmt waren, doch nur wie ein falscher, verzerrter Ton. Fast peinlich erschien nun die gerade noch so überzeugende Schlußfolgerung, daß jemand, der wegen eines Haufen Geldes fälschte, log und betrog, aus demselben Grund auch einen kleinen Jungen entführen konnte. So gewaltsam hatte Marta ihr Geständnis aus sich herausgequält, so rücksichtslos hatte sie ihr Innerstes nach außen gekrempelt, daß da kein Platz mehr sein konnte, an dem sich ein weiteres schreckliches Geheimnis verbarg. Selbst Catia Vannoni mochte das nicht unterstellen.
Ivan Garzone hob die Hand und ließ zwischen den Fingern ein wenig Erde hervorrieseln. Er beobachtete, wie weit sie durch Windstärke fünf von der Fallinie abgelenkt wurde. Nicht, daß das noch irgendeine Rolle spielte! Er richtete sich auf, warf den Rest der Erde in die Luft und sagte: »Via col vento. Vom Winde verweht!«
Dann drehte er sich um. Er streckte seiner Frau die Hand entgegen, die sie zögernd ergriff. Ivan sagte: »Wir waren schon lange nicht mehr im Kino, Marta. Hättest du nicht mal Lust auf eine schöne Liebesschnulze?«
Marta schüttelte den Kopf, ließ aber Ivans Hand nicht los.
»Das solltet ihr tun«, sagte Marisa Curzio.
»Unbedingt!« sagte Franco Marcantoni.
»Ich passe auf Gigino auf«, sagte Milena Angiolini.
»Wenn einer von euch zufällig ein Anemometer braucht …« Ivan wies auf das Holzgerüst am Feldrand. »Ich hätte da umständehalber ein AVM 3000 mit Flüssigkristallanzeige und CR 2032-Batterie
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