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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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ich offen und hastete ums Haus. Den Jungen mochte einer verstehen! Er stand keine zehn Schritte entfernt und ließ in aller Ruhe einen Drachen durch die Luft segeln.
    »Hol das Ding herunter!« rief ich ihm zu. Der Junge sah über die Schulter zu mir her. Der Drachen tanzte nach links und rechts, schien unwillig den Kopf zu schütteln. Das Seidenpapier knatterte im Wind.
    »Wird es bald?« brüllte ich und lief auf den Jungen zu. Er umklammerte mit beiden Händen das Stück Holz, an dem die Leine festgemacht war. Ich griff in die Schnur und holte sie Armlänge um Armlänge ein. Als etwa drei Meter fehlten, bäumte sich der Drachen auf, stürzte seitlich ab und fiel hart auf den Boden. Der Junge zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange das so gegangen war und ob jemand den Drachen bemerkt hatte.
    »Wir müssen weg«, sagte ich. »Sofort!«
    Der Junge begann die Leine des Drachens aufzuspulen. Ich hatte auch keine Ahnung, wie er aus dem Haus entkommen war. Die Kette hing noch vor der Tür, das Vorhängeschloß schien unversehrt. Vielleicht hatte er die Heugabel zwischen die Balken geklemmt und sich durch das kaputte Dach herausgehangelt. Doch wieso war er nicht fortgelaufen? Warum hatte er sich gerade mal so weit vom Haus entfernt, daß er seinen verdammten Drachen steigen lassen konnte? Egal. Auf jeden Fall mußten wir fort. Hier war es nicht mehr sicher.
    »Los!« sagte ich. »Sonst kommt der schwarze Mann und …«
    »Der schwarze Mann ist tot.«
    Ich lachte laut auf. Der Junge machte es sich leicht. Die Probleme hatte ich am Hals. Wohin sollten wir gehen? Ich wußte kein Versteck mehr, das sich eignen würde. Ich zwang mich zur Ruhe. Gerade jetzt durfte ich nicht panisch reagieren. Sollte ich ziellos in der Gegend herumfahren, wenn nicht einmal sicher war, daß überhaupt jemand den Drachen gesehen hatte? Ich überlegte, ob ich den Jungen wieder einsperren sollte, ließ es aber bleiben. Wozu sollte das gut sein, wenn er sowieso nicht weglief? Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Vielleicht war ihm klargeworden, daß er nicht vor dem fliehen konnte, was er angerichtet hatte.
    Ich ging den Hügelkamm entlang bis zu einer Stelle, von der man ein gutes Stück der Straße einsehen konnte, die nach Montesecco führte. Verdammt, da waren sie! Ich erkannte ihre Autos. Der Peugeot von Marisa und der Fiat der Sgreccias waren nach Madonna del Piano ins Tal abgebogen, die anderen beschleunigten auf der langen Gerade vor der Abzweigung nach Magnoni. Ich mußte augenblicklich zum Auto zurück, den Jungen in den Kofferraum sperren und den steilen Feldweg hinter mich bringen. Ich blieb stehen. Selbst wenn sich der Junge nicht wehrte, würde ich die Straße nach Pergola niemals erreichen, bevor die anderen an der Einmündung anlangten. Mir blieben noch ein paar Minuten. Keine zehn. Vielleicht nur fünf. Ich sah nach oben. Über mir zogen weiße Wolken.
    Dann lief ich zu dem Jungen zurück. Er hatte die Leine des Drachens inzwischen aufgespult. Ich sagte: »Einen Menschen umzubringen ist ein ganz schlimmes Verbrechen. Du hast wirklich Glück, daß wir beide so dicke Freunde sind, denn Freunde verraten einander nicht. Das weißt du doch, oder?«
    Der Junge nickte.
    »Auf jeden Fall werde ich nicht sagen, daß du dem Mann von hinten die Kehle durchgeschnitten hast.Ich werde sagen, daß ich gar nichts sehen konnte, weil ich nicht da war. Niemand war da, nur du und der schwarze Mann. Dann könnte man vielleicht verstehen, warum du ihn umgebracht hast. Du warst immer allein mit ihm, du hattest fürchterliche Angst.«
    »Er wollte mir weh tun.«
    »Du konntest niemanden um Hilfe bitten …«
    »Ich habe mich doch nur gewehrt.«
    »… weil keiner da war, der dir beistehen konnte.«
    »Ja«, sagte der Junge, doch was besagte das schon? Ich hätte eine Million Euro gegeben, wenn ich erfahren hätte, was sich in seinem Kopf wirklich tat. Aber man kann nun mal in niemanden hineinsehen. Auch wenn du einen Menschen noch so gut kennst, bleibt immer ein Rest an Unberechenbarkeit. Zumindest, solange er lebt. Das Messer, mit dem der Junge getötet hatte, mußte noch im Haus liegen.
    »Warum läßt du nicht noch einmal deinen schönen Drachen steigen?« fragte ich den Jungen.
    Assunta Lucarelli konnte nicht mehr sterben, denn das war schon vor acht Jahren geschehen, als sie innerhalb einer Woche alles verloren hatte, was ihr teuer war. In jenem schrecklichen heißen Sommer war ihr einziger Sohn ermordet

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