Die Drachenflotte (German Edition)
Bergungsmensch, den ich interviewt habe, ist beispielsweise überzeugt davon, dass diese Karten nur ein zusätzlicher Beweis dafür sind, dass die Chinesen als Erste in Amerika waren.»
«Wieso sollten ausgerechnet europäische Karten das beweisen?», fragte Rebecca stirnrunzelnd.
«Weil diese alten Kartographen alle untereinander Anleihen gemacht haben. Piri Reis war Türke, und die Türken waren zu jener Zeit führend im Gewürzhandel, da wird er sicher Zugang zu orientalischen Quellen gehabt haben.»
«Klingt plausibel.»
«Ja», stimmte Knox zu. «Aber es gibt einfachere Erklärungen. Vielleicht waren die Portugiesen oder die Spanier bei der Erforschung der neuen Gebiete viel schneller, als die meisten Historiker glauben, und haben nur nichts davon verraten. Vergessen Sie nicht, dass der Papst damals gerade den Portugiesen alles Neuland südöstlich einer willkürlich gezogenen Längenlinie westlich der Azoren zugesprochen hatte, während die Spanier alles Land südwestlich dieser Linie bekamen. Aber was zählt, sind die geschaffenen Fakten, deshalb unternahmen beide Nationen gewaltige Anstrengungen, neue Gebiete vor dem jeweils anderen zu erforschen und zu besiedeln, machten aber nur das bekannt, was ihrer Anwartschaft entsprach. Das waren die großen Staatsgeheimnisse jener Zeiten.»
«Sie glauben also, es gab einen Maulwurf?»
Knox nickte. «Viele bezichtigen Vespucci. Er war damals für die Spanier tätig. Aber wir werden es wohl nie mit Sicherheit wissen.» Er rollte die Karten wieder zusammen. «Merkwürdig, dass Ihr Vater sie hier hat. Interessiert er sich für solche Dinge?»
Rebecca lächelte. «Er interessiert sich für alles», sagte sie. «Aber ganz sicher für Geographie, ja. Er sagt immer: Evolution ist Geographie.»
«Ja, wahrscheinlich.» Eine Bö ließ das Segel flattern. «Na ja, wie dem auch sei, wir sollten wieder Gas geben, sonst kommen wir heute Abend nicht mehr bis Eden.» Er packte die Karten weg, suchte sich die heraus, die er brauchte, und nahm sie mit an seinen Platz. Dann trimmte er das Boot, bis das Segel sich wieder blähte und sie neue Fahrt gewannen.
II
Rebecca ließ eine Hand durch das Wasser gleiten, während sie nach Norden segelten, und beobachtete die Küste. Eine Piroge näherte sich, über ihrem schmalen Bug stand breitbeinig ein Speerfischer und rief dem jungen Burschen im Heck Anweisungen zu. Diese Speerfischer waren wichtige und allgemein bewunderte Männer. Die besten unter ihnen konnten an einem guten Tag fünfzig Kilo Fisch nach Hause bringen. Manche benutzten schwere Steine als Gewichte, um sich auf dem Meeresgrund nach großen Fischen auf die Lauer legen zu können; andere jagten kühn den Fischschwärmen nach, wobei sie allerdings bei hervorragender Kondition sein mussten, um gegen die Strömungen anzukommen. Kein Wunder, dass ihre Körper bis aufs Äußerste gestählt waren und kein Gramm Fett zu viel hatten.
Der Mann sah zu ihnen hinüber, als sie einander begegneten, und winkte überschwänglich. « Salaam , Becca», rief er laut. Er gab dem Jüngeren ein Zeichen, die Piroge kreuzte, bis sie mit nur zwei Meter Abstand auf gleicher Höhe lief. Als Rebecca die breite Narbe auf der linken Hüfte sah, wo vermutlich einmal eine Angelschnur die Haut durchschnitten hatte, erinnerte sie sich. Sie hatte plötzlich ein lebhaftes Bild vor sich, wie er sich eines Tages in die Ambulanz geschleppt hatte, das Bein eine einzige blutige Masse mit einem weißen Knochen unter dem lose hängenden Hautlappen. « Salaam, Toussaint», rief sie. «Onona no vaovao?»
«Tsy misy.» Es machte ihn offensichtlich stolz, dass sie sich an ihn erinnerte, auch wenn er versuchte, es nicht zu zeigen. «Schlimm das mit Adam und Emilia. Tut mir so leid.»
«Danke.»
«Dein Vater ist ein guter Mann. Deine Schwester eine gute Frau. Wenn wir was tun können.»
«Ihr könnt suchen.»
«Wir suchen schon», antwortete er, aber dabei senkte er ganz kurz den Blick. «Das Meer ist groß.»
«Ja.»
«Du kommst uns mal besuchen, ja?»
«Gern.»
Er zeigte auf Knox. « Vezo blanc, hm?»
«Vezo blanc» , wiederholte Rebecca lächelnd.
Er gab seinem Gefährten im Heck ein kurzes Zeichen, und unter Winken setzten sie ihre Fahrt fort.
«Vezo blanc?» , fragte Knox trocken.
«Das ist ein Kompliment», versicherte Rebecca. «Es bedeutet einfach ein Fremder, der auf dem Meer zu Hause ist. Es hat Jahre gedauert, bevor irgendjemand hier meinen Vater einen Vezo blanc nannte. Er hat tagelang damit
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