Die Drachenjägerin 1 - Winter, M: Drachenjägerin 1
wirklich. Es gibt keine Drachen in Nelcken und erst recht nicht hier in Brina. Keine … Drachen.«
Der Schatten war fort. Aber das beunruhigende Gefühl, das er in ihr geweckt hatte, blieb.
Ein Drache. Sie konnte noch so oft versuchen, sich einzureden, dass sie sich täuschte: Das war es, was sie wahrnahm. Ein Drache, rot und flammend wie ein Sonnenuntergang, bei Tage funkelnd im Licht, bei Nacht nichts als ein dunkler Umriss unterhalb der Sterne.
Ihr Leib, bereit, sich flach in den Staub zu werfen und den Atem anzuhalten, bestand darauf, sich wenigstens zu ducken. Ihr Herz schlug schneller. Ihre Instinkte jagten eine Mischung aus Angst und wilder Energie durch ihre Adern.
» Es gibt keine Drachen hier. Da ist kein Drache, der über mir fliegt«, sagte sie laut.
Die Grillen in ihrer Nähe zirpten unbekümmert weiter, und irgendwo schrie eine Eule.
» Da ist kein …«
Ihre Beine wussten es besser. Linn rannte los, mit klopfendem Herzen, so schnell sie konnte, wetzte wie der Wind die Straße hinunter, zwischen den Höfen hindurch, den Pfad am Bach entlang, über die Steine, bis dunkel die Mühle vor ihr auftauchte.
Keuchend klammerte sie sich an den Türbalken. » Binia! Lass mich rein! Binia!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Tür geöffnet wurde und ihre kleine Schwester, im Nachthemd und gähnend, nach draußen spähte.
» Wo sind die anderen?«
» Die kommen nach.« Linn stürzte in die kleine Kammer und kroch in ihr gemeinsames Bett, das noch warm von dem mageren Körper ihrer Schwester war. Sie zog sich die Decke über den Kopf.
» Ach«, sagte Binia nur. » Hast du also schon wieder einen Drachen gesehen.«
3
» Wir wurden bestohlen!«, schrie Lester. Mit schweißnasser Stirn und roten Wangen stürmte er in die Stube, wo die Familie schon um den Esstisch versammelt saß und ihren Brei löffelte.
» Alles?« Merina wurde weiß wie die Wand. » Alles weg?«
» Nein.« Er zwang sich zur Ruhe. » Es fehlen zwölf Kupferlinge.«
Die Müllerin runzelte die Stirn. » Aber … welcher Dieb würde denn bloß so wenig herausnehmen?« Langsam drehte sie sich zu ihren Kindern um, das Gesicht eine einzige Drohung.
Linn musste schlucken. Sie hatte so sehr gehofft, dass Rinek es schaffte, den Verlust zu ersetzen, bevor sein Vater es merkte. Jeden Tag seit dem Besuch im Wirtshaus hatte sie ihn danach gefragt, und jedes Mal hatte er sie vertröstet, er werde schon jemanden finden, der mit ihm wettete. Doch im Dorf gab es keinen, der sich auf ein Spiel einließ – entweder hatte derjenige selbst einen Wettstein erworben oder er besaß keinen und ging auf Nummer sicher, oder er war bereits oft genug von dem kräftigen jungen Mann besiegt worden und hatte daraus gelernt.
Aus nichts konnte Rinek kein Geld vermehren, und um sein Glück in einem der Nachbardörfer zu versuchen, fehlte ihm die Zeit.
» Ich«, sagte er und senkte den Kopf.
Linn wünschte sich, sie wäre schneller gewesen und hätte sich an seiner Stelle gemeldet – gleichzeitig schämte sie sich für ihre Erleichterung darüber, dass der Zorn ihrer Mutter sich nicht auf sie entlud.
Rinek erduldete die Schläge, ohne mit der Wimper zu zucken. Linn bewunderte ihn dafür, wie er alles über sich ergehen ließ, den Kopf gesenkt, ergeben wie ein altes Pferd. Merina stieß bei jedem Hieb einen wütenden Schrei aus.
» Das ist dafür, dass du deinen Vater bestiehlst! Und das ist dafür, dass du nicht gehorchst! Und das ist dafür, dass du deinen Geschwistern ein schlechtes Beispiel gibst!«
» Mutter!« Linn versuchte, den Stock festzuhalten, mit dem die Müllerin gerade wieder ausholte. » Mutter, er hat es doch verstanden!«
Merina stieß sie wutentbrannt von sich. » Wir haben nichts!«, schrie sie gellend. » Gar nichts! Nichts gehört uns, weder die Mühle noch das Haus oder das Land, auf dem es steht! Wie soll es denn jemals besser werden, wenn nicht einmal unser Gespartes sicher ist? Wir haben kein Geld für Bier oder für Wetten, kapiert ihr das nicht?« Drohend hob sie den Stock. » Was hast du denn, außer deinen Träumen? Nichts! Wir haben kein Geld für einen einzigen weiteren Esser. Wir können keine weitere Kammer anbauen. Rinek kann nicht heiraten, solange ihr alle zu Hause seid. Du kannst nicht heiraten, weil wir dir keine Aussteuer geben können. Und Merok? Und Binia? Du bist schon siebzehn, was für eine Zukunft hast du vor dir?«
Schützend hielt Linn die Hände hoch. » Ich brauche keine Aussteuer. Yaro nimmt mich auch
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