Die Drachenjägerin 3 - Winter, M: Drachenjägerin 3
gewaltiges Rohr in die Höhe und verschwand irgendwo in Deckennähe, doch das nahm Linn nur beiläufig wahr. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Käfig, der am Fuß der Säule stand und im Vergleich dazu winzig wirkte.
In diesem Käfig saß ein Mädchen.
Linn kannte sie und kannte sie zugleich nicht.
Sie war nicht mehr zwölf. Die Sängerin, die schlagartig verstummte, als sie Linn bemerkte, war eine junge Frau von vielleicht sechzehn, siebzehn Jahren. Sie trug einen dunklen Rock und eine bestickte Weste, und nein, da war kein einziges blondes Haar, nur ein Kopftuch, das sie fast bis über die Augen gezogen hatte. Die waren strahlend blau, so wie Linns Augen, wie Merinas Augen, und etwas an dem Lächeln des Mädchens erinnerte Linn an ihre Mutter.
» Linn! Linni! Bist du es wirklich?«
Linn streckte die Hände durch die Gitterstäbe, und die vertraute Fremde umklammerte sie, drückte sie und küsste sie sogar, und ihre Tränen fielen auf Linns Finger.
» Wie geht es Mutter? Und Lester? Was macht Merok, hat er sein Mädchen geheiratet? Steht die Mühle noch? Ist Yaro heil zu Hause angekommen?«
Die Fragen sprudelten aus Linn heraus wie ein Schwall, noch bevor sie sich auf die wichtigste Frage von allen beschränken konnte: » Wie kommst du hierher?« Sie atmete tief durch. Ihre Augen konnten sich nicht sattsehen an Binias Gesicht, an ihrer schönen, hellen Haut, den vorwitzigen Sommersprossen auf ihrer Nase, den Tränen auf ihren langen Wimpern. » Warum singst du?«, fragte sie. » Ich meine, warum bist du denn bloß hier, und warum singst du?«
» Er hat mir befohlen zu singen, in dieses Rohr«, erklärte Binia und lächelte mit feuchten Wangen. » Er sagte mir, wenn ich singe, so laut und so schön, wie ich kann, würde er dafür sorgen, dass ich geheilt werde.«
» Sie hat es sich verdient, nicht wahr?« Über den Marmor schritt Scharech-Par, ein freundlicher König – wie gelang es ihm nur, so viel Güte und Wohlwollen in sein Gesicht zu zaubern? » Wie hübsch sie singt, die kleine Lerche. Wie sie wohl erst tanzen wird, wenn sie statt der grässlichen Narben schöne, glatte Haut am Rücken hat? Wenn nicht mehr jede Bewegung schmerzt, wenn die Muskeln heil und stark sind?«
Er öffnete den Käfig, und Binia flog in seine Arme.
Linn trat einen Schritt zurück. » Was geschieht hier? Ich dachte, du bist seine Gefangene! Ich dachte, du weinst, weil du eingesperrt bist, weil …«
» Eingesperrt?« Scharech-Par lachte. » O Linnia, ich würde doch niemanden einsperren. Die Tür war nicht verschlossen, ist dir das nicht aufgefallen? Das Gitter diente nur ihrem eigenen Schutz, denn sie fürchtet sich in dieser leeren Halle, und wenn die wilden Gebirgsaffen, die hier hausen, um einen herumtollen, ist es besser, geschützt zu sein, nicht wahr?«
» Binia, komm zu mir!« Linn streckte die Hand nach ihrer Schwester aus, doch diese blieb bei Scharech-Par.
Ihre Augen strahlten. » Linni, er sagt, ich kann geheilt werden! Er ist der König, und er sagt, seine Heiler können alles, selbst das! Er tut es deinetwegen, wegen des großen Gefallens, den du ihm erwiesen hast. Du bist seine beste Drachenjägerin! Oh, ich danke dir, ich danke dir so sehr!«
Binia umarmte Linn überschwänglich. Dabei verrutschte das Kopftuch, und ein Stück ihrer zerfurchten roten Kopfhaut wurde sichtbar.
» Komm!« Linn zog an Binias Hand. » Komm mit, rasch. Vertrau mir. Es ist nicht so, sondern …«
Erneut unterbrach Scharech-Par sie mit seinem Lachen, und schon hielt er Binia wieder an der Hand und setzte eine liebevolle, väterliche Miene auf.
» Geh ruhig vor, meine Liebe«, sagte er zu dem Mädchen, » ich muss noch kurz mit deiner Schwester reden. Du hast wunderbar gesungen, die Magie deines Liedes ist der erste Schritt zur Heilung. Morgen ist der nächste Schritt dran.«
Binia strahlte ihn vertrauensvoll an. » Es war herrlich«, meinte sie, » als Ihr in unser Dorf gekommen seid, mit Geschenken für alle! Diesen Tag werde ich nie vergessen!« Sie nickte Linn zu und ging zur Treppe hinüber, schwerfällig und in einer erschreckend gebückten Körperhaltung. An der untersten Stufe wartete Wea, was Linn davon abhielt, ihrer Schwester zu folgen. Das Lächeln der Zauberin war tief und wissend, als sie den Arm um Binia legte und ihr bei dem schweren Aufstieg half.
Scharech-Par wirkte nachdenklich, während er die beiden beobachtete. » Du bist überraschend klug«, sagte er schließlich. » Das wundert mich, nachdem du bisher so
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