Die Drachenjägerin 3 - Winter, M: Drachenjägerin 3
wandte sich an Gah Ran. » Du erwartest vielleicht, mich erstaunt zu sehen. Aber das bin ich nicht. Kein Drache kommt ewig gegen die Macht der ValaNaiks an. Du wirst bei mir sein, an meiner Seite, wenn wir nach Steinhag fliegen. – Wea, nimm die Schuppe.«
Die Frau neben ihm machte einen Schritt nach vorn.
» Lauf!«, zischte Linn Rinek zu. » Schnapp sie dir!«
Er rannte vorwärts, die Hand ausgestreckt. Noch achtete niemand auf ihn, alle Augen waren auf Wea gerichtet, die die Stufen zu Ojia Ban hinunterschritt. Rinek war schon fast bei ihm, als der Blaugrüne seine Pranke vorschnellen ließ. Die Schuppe segelte durch die Luft, direkt auf Wea zu.
Rinek sprang.
Wea sprang.
Scharech-Par schrie: » Nein! Haltet ihn!«
Dann verschwand die Schuppe, mitten im Flug. Rinek und die Zauberin prallten aufeinander und rollten gemeinsam die Stufen hinunter. Linn war, als würde die Zeit stehenbleiben. Der Drachenkönig öffnete den Mund, um etwas zu rufen. Doch dann hörten sie alle eine andere Stimme, eine, die Linn schon lange nicht mehr vernommen hatte – die Stimme des Königs.
» Caness.«
Es bedurfte nur dieses einen Wortes. Der Zauber wirkte nicht mit Blitz und Feuer, mit Donnergrollen und Getöse. Er kam leicht wie ein Frühlingswind, leicht wie Salz, das auf der Zunge schmilzt. Verwandlung. Und die Welt verwandelte sich. Pivellius erschien vor ihnen, ein alter Mann in einem zerschlissenen Gewand, mager und bleich, mit weit aufgerissenen, funkelnden Augen.
Ihm gegenüber jedoch stand ein Drache. Ein Drache, wie Linn noch nie einen gesehen hatte. Er war riesig, fast so groß wie der tote Laran auf dem Grund des Meeres, aber dieser Drache war überaus lebendig. Er war weiß und doch nicht weiß, bei jeder Bewegung schimmerte er wie Perlmutt in allen Farben des Regenbogens. Er war das Schönste, was sie je gesehen hatte, was sie je erträumt hatte, was es im Himmel und auf Erden geben konnte, herrlich und mächtig wie ein Gott. Mit einer einzigen Drehung schleuderte er Gah Ran und Ojia Ban zur Seite und wandte sich Pivellius zu, der wie gelähmt zu ihm aufsah.
» König Pivellius? Solltet Ihr nicht schon lange tot sein?«
Es war Scharech-Pars Stimme, und zugleich war sie es doch nicht. Aus dem Rachen dieses Ungeheuers klang sie tausendfach zauberhafter. Unwiderstehlich. Eine Verlockung ohnegleichen. Niemand konnte sich ihm widersetzen. Niemand konnte ihm widersprechen oder gegen ihn antreten.
Ich wusste es nicht, dachte Linn benommen. Ich wusste bis jetzt nicht, was ein ValaNaik ist. Wie konnten wir es wagen, gegen ihn zu kämpfen? Wie konnten wir davon träumen, ihn zu besiegen?
Sie machte einen Schritt nach vorne. War es nicht Zeit, sich niederzuwerfen und anzuerkennen, was sie schon längst hätte tun müssen? Dass Scharech-Par der König war, über Schenn und genauso über jedes andere Königreich, das er haben wollte? Er musste nur die Hand danach ausstrecken, und es gehörte ihm.
» Was hast du vor?«, erkundigte sich die Stimme der Maske.
» Er ist ein ValaNaik«, antwortete Linn dumpf.
Die Stimme in ihrem Inneren lachte leise. » Na und? Was ist denn ein ValaNaik, wenn nicht eine Perle in meiner Krone? Eine Münze in meinem Beutel? Hältst du ihn für allwissend? Er schaut dich an und weiß nicht einmal, was er sieht. Hältst du ihn für unsterblich? Für einen Gott?«
» Ja«, flüsterte sie.
» Niemals«, sagte die Stimme streng, » erlaube ich, dass die Drachenpriesterin vor dem König auf die Knie fällt.«
» Ich bin nicht …«
Niemand bewegte sich. Alles war still um sie her, als wäre die ganze Welt eingefroren in diesem einen Augenblick. Doch Nival drehte sich zu ihr um und lachte.
» Drachenmaid!«
Sie wusste nicht, ob es seine Stimme war oder die der Maske. Für einen Moment waren beide eins, dieselbe muntere, stets zu Scherzen aufgelegte Stimme.
» Weißt du nicht, wer deine Freunde sind? Weißt du nicht, wer deine Feinde sind – immer noch nicht? Wie kannst du nur vergessen haben, wer du bist?«
Dann war auf einmal alles klar. Die Welt drehte sich weiter, und vor ihr nahm Scharech-Par ihr gesamtes Blickfeld ein. In letzter Zeit hatte Linn ständig Dinge tun müssen, die ihr nicht lagen. Der Gang durchs Moor, die Seefahrt, der Flug auf den Geiern. Sie hatte sich krank und elend gefühlt, und schlimmer noch, schwach. Aber das war sie nicht – sie war bloß nicht für Schiffe oder Geier geschaffen. Sie war etwas ganz anderes, und nun erinnerte sie sich wieder daran. An das, was
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