Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
als habe sich plötzlich ein Fehler in ein gewohntes Bild eingeschlichen. Sie hatte an sich heruntergeblickt: Ihr Schwert, man hatte ihr das Schwert abgenommen.
Seit sie es von Livon zum Geschenk erhalten hatte, war ihr das noch nie passiert. Nun aber wurde es von irgendeinem Fremden betastet, einem Feind, der es vielleicht schon in Besitz genommen und sich an die Seite gebunden hatte. Allein schon der Gedanke war ihr unerträglich. Dies war nicht einfach nur ihr Schwert, sondern alles, was ihr von Livon geblieben war.
»Verdammt!«, fluchte sie jetzt noch einmal.
»Es ist einzig meine Schuld«, stöhnte Sennar, »eine halbe Stunde habe ich dagesessen und mir immer wieder gesagt, dass ich mir diese Schritte bestimmt bloß einbilde. Hätte ich besser Wache gehalten, wären wir jetzt nicht hier.«
Doch Sennars Selbstvorwürfe waren Nihal auch kein Trost.
Wenigstens hatte man ihr das Amulett gelassen, sie spürte die Kälte des Metalls an ihrem Busen unter dem Oberteil. »Wem sind wir wohl in die Hände gefallen?« »Das weiß ich auch nicht«, antwortete Sennar. »Jedenfalls befinden wir uns noch bei den Kanälen, und ich wüsste nicht, wieso die Schergen des Tyrannen hier unten Posten beziehen sollten.«
Aber das war auch nicht mehr wichtig. Wer auch immer sie überrumpelt haben mochte, jetzt waren sie deren Gefangene. Ende der Mission. Hin und wieder mühte sich Nihal, die Knoten zu lockern, die ihr in Hände und Füße schnitten, aber ohne Erfolg. Sie waren fachkundig verschnürt worden, und die Halbelfe hatte keine Kraft mehr. Der Hunger begann schon ihren Blick zu verschleiern, und die unerträgliche Hitze verschlug ihr den Atem.
Nach einigen Stunden öffnete sich die Tür ihrer Zelle, und blendendes Licht fiel ein. So konnten sie nichts Genaues erkennen, hörten aber Stimmen.
»Wir haben sie hier unten eingesperrt.«
»Ich seh's.«
Es war eine Frauenstimme, die Sennar irgendwie bekannt vorkam.
»Er ist wohl Magier, aber ziemlich übel zugerichtet, und sie eine Art Kriegerin, glaube ich.«
»Hol sie raus, ich habe keine Lust, mich in dieses Loch zu zwängen.«
Zwei starke Arme packten Sennar und stießen ihn unsanft über die Schwelle. Das Gleiche musste sich Nihal gefallen lassen.
»Schauen wir doch mal, wen wir hier haben«, sagte die Frauenstimme - und verstummte. »Das ist doch nicht möglich ...«
Sennar hob den Blick und konnte jetzt die Person erkennen, die da sprach. »Du ...?« Aires warf sich ihm an den Hals. »Sennar!«
Nihal verstand gar nichts mehr, störte sich aber daran, mit welcher Inbrunst diese fremde Frau Sennar an sich drückte.
Lange lagen sie sich so in den Armen, und als sie sich von einander lösten, lachten beide, dass ihnen die Tränen kamen. Aires konnte den Blick nicht von ihm abwenden und wiederholte unablässig: »Das ist doch nicht möglich ... Aber du bist es tatsächlich, Sennar!«
Nihals Augen hatten sich an das Licht gewöhnt, sodass sie die Frau jetzt gut erkennen konnte. Sie war wunderschön mit ihrem langen, glänzend schwarzen Haar und den großen, braunen Augen, die durchdringend blickten. Obwohl sie wie ein Mann gekleidet war, fiel ihre üppige Weiblichkeit sofort auf. Eine Frau, eine richtige Frau. Wo mochte Sennar sie kennengelernt haben? Und warum waren sie sich so vertraut? Diese Fremde schien Sennar mit den Augen verschlingen zu wollen, und er antwortete mit der gleichen Hingabe. Nihals Verärgerung wuchs.
Erst jetzt, nach der stürmischen Begrüßung, forderte Aires ihre Leute auf, die beiden loszubinden. Als sie sah, dass sich Sennar nur mühsam auf den Beinen halten konnte, fragte sie, was geschehen sei. Ohne seine Antwort abzuwarten, hob sie sein Gewand an und blickte auf den großen Blutfleck, der sich, auf Höhe des Knies, auf seiner Hose abzeichnete.
»Meine Männer sind wenig zimperlich ...«, erklärte sie. »Ich werde dich verbinden lassen.« Dann musterte sie ihn noch einmal von Kopf bis Fuß und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. »Du siehst aus, als hättest du schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen.«
»In der Tat ...« Sennar nickte.
»Dann sehen wir mal, ob wir was zu essen für euch finden«, erklärte Aires und führte sie mit sich fort.
Nihal hatte Gelegenheit, sich umzublicken. Sie befanden sich noch in dem Kanalsystem und standen jetzt in einer der großen Hallen. In den Wänden waren Nischen, die mit Brüstungen versehen und wie Hütten eingerichtet waren. In den vielleicht dreißig Unterkünften wohnten Menschen,
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