Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
mehr, Angst zu haben«, sagte die Stimme wieder.
»Bist du Aster?« Nihal blieb stehen. Nun war sie ruhig, spürte keinen Hass mehr, nur Angst, eine unterschwellige, kalte Furcht.
»Ja«, sagte die Stimme.
Er war es. Endlich.
»Was zögerst du nur?«, fragte der Tyrann. »Nachdem du mich so lange schon mit deinem Hass verfolgst, müsste es dich doch interessieren, wie ich aussehe.« Nihal trat weiter vor und begann eine Gestalt auf dem Thron auszumachen. Sie war so klein, dass Nihal kaum ihren Augen traute. Vielleicht ein Gnom? Die Gestalt erhob sich und trat einige Schritte vor, bis sie unter dem Lichtkegel stand, der durch ein Glasfenster hinter dem Thron einfiel. Nihal erstarrte, und das Schwert in ihren Händen zitterte.
Vor ihr stand ein Knabe von verstörender Schönheit. Er mochte höchstens zwölf Jahre alt sein und trug ein langes schwarzes Übergewand mit einem breiten Kragen und einem aufgemalten Auge auf der Brust, ein Magiergewand. Seine Augen schimmerten smaragdgrün, und sein gelocktes Haar war von einem tiefen Blau, einige widerspenstige Locken hingen ihm in die Stirn. Unter diesem Haarschopf von der Farbe der Nacht schauten zwei spitze Ohrmuscheln hervor.
»Aster, wo bist du?«, fragte Nihal mit vor Angst heiserer Stimme und wagte es dabei nicht, den Blick über den Knaben hinaus schweifen zu lassen.
»Ich bin es, ich bin hier«, antwortete der junge Magier ruhig.
»Was hast du diesem Kind angetan, Ungeheuer?!«, schrie Nihal.
Der Junge setzte eine betrübte Miene auf. »Aber Nihal, hast du dich nicht immer einsam gefühlt? Hat es dich nicht immer bedrückt, die Letzte eines ganzen Volkes zu sein? Du solltest dich freuen, mich zu sehen...« Er lächelte. »Du bist nicht mehr allein, Nihal, auch ich bin ein Halbelf.«
Entsetzt wich Nihal zurück. Das konnte nicht sein. »Du bist nicht Aster! Aster ist ein alter Mann. Seit vierzig Jahren herrscht er bereits.«
»Ich bin älter, als ich aussehe, Nihal, ich bin sehr alt, und sehr erschöpft, um ehrlich zu sein.«
»Das ist unmöglich!«
»Der Vater jener Frau, die ich liebte, verlieh mir dieses Aussehen. Er war ein mächtiger Zauberer, und als er unsere Liebe entdeckte, belegte er mich mit einem Siegel. Bis zu meinem Tode werde ich ein Kind bleiben.«
Von Entsetzen gepackt, wich Nihal noch weiter zurück. Es war wie ein Albtraum. Aus unschuldigen Augen blickte Aster sie verwundert an.
»Ich verstehe dich ja. All die Jahre hast du mich gehasst, und nun will das Bild, das du dir von mir gemacht hast, nicht zu dem Knaben passen, den du vor dir siehst. Aber ich bin es.«
Nihal blieb stehen und hob ihr Schwert, so als drohe Aster, sie plötzlich anzugreifen. Sie war verwirrt, verunsichert.
Aster trat weiter auf sie zu. Mit jedem Schritt, den er näher kam, wuchs Nihals Entsetzen. Sie zwang sich, ihrem Feind in die Augen zu schauen. Sie waren den ihren verblüffend ähnlich, und kein Hass war darin zu entdecken und auch nicht die Niedertracht, die Nihal dort mit Gewissheit zu finden geglaubt hatte. Aster blickte sie weiter ruhig, fast bekümmert an. Er war tatsächlich ein Halbelf.
Nihal hatte noch nie einem Angehörigen ihres Volkes gegenübergestanden, spürte aber deutlich, dass dieser Junge wie sie selbst war, wie die Gestalten auf der Zeichnung, die Sennar ihr vor langer Zeit geschenkt hatte, wie die Geschöpfe, die auf dem Flachrelief in Seferdi dargestellt waren. Sie begann am ganzen Leib zu zittern.
»Was entsetzt dich so an mir? Dass ich ein Kind bin? Oder dass ich ein Halbelf bin?«, fragte Aster.
»Wie konntest du nur... als einer von uns...«, murmelte sie. »Es waren deine eigenen Brüder und Schwestern, die du ausrotten ließest...«
Aster lächelte. »Ich musste es tun«, sagte er ruhig. »Als ich all das, was du hier siehst, aufzubauen begann und mich an meine große Aufgabe machte, prophezeite mir ein Greis, dass du meinen Weg kreuzen würdest. Er sprach nicht von dir persönlich, nur von einem Halbelf, wie ich einer bin, der mir in den Arm fallen würde. Was ich mir vorgenommen hatte, war aber zu bedeutend, und daher durfte ich nicht zulassen, dass mich irgendjemand, wer es auch sei, von meinem Weg abbringt. Daher sandte ich meine Geschöpfe, die Fammin, die ich gerade geschaffen hatte, in das Land der Tage aus und ließ mein gesamtes Geschlecht auslöschen.« Asters Stimme klang kalt und gleichgültig.
»Das kann nicht wahr sein...«
»Doch, das ist es, Nihal. Deinetwegen tat ich es. Hättest du es dir nicht in den
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