Die Drachenlanze (Die Saga von den drei Königreichen) (German Edition)
hätte sie sich die ganze Sache zweimal überlegt, oder? Nein, dachte sie, sie hätte trotzdem alles getan, damit Mal Kallin nicht Opfer von Invasoren wird. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen.
Die Morgenluft, gewürzt von einer frischen Brise vom Meer her, half ihr jedoch bei ihrem Marsch zurück in den Palast einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatte richtig gehandelt, zumindest bis jetzt ; sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Und vielleicht würde sie sogar in Zukunft das ein oder andere Mal zur Messe gehen, damit auch Pater Bogal seinen Seelenfrieden hätte.
Fast gut gelaunt schritt sie durch den hinteren Dienstboteneingang, um sich in ihren Gemächern umzuziehen – am Mittag wurden einige Abgesandte aus dem Westen erwartet, denen die höheren Abgaben erklärt werden mussten. Cathyll wusste wie wichtig es war die Adeligen auf ihre Seite zu bringen und ihnen Honig ums Maul zu schmieren; es war allerdings der Teil, der ihr an ihrer Position als Königin am wenigsten gefiel. Als sie die Treppe hinaufeilte, kam ihr eine rotbäckige Ma’an entgegen. „Mylady, Mylady. Ich…“ Cathyll lächelte ihre Zofe an. „Du sollst mich doch nicht so nennen,…“ „Mylady, Cathyll, …, Sybil, sie…“
Cathyll lief die Treppe hinauf und bog links ab. Sie rannte den Gang hinunter, bis sie an das Kra nkenzimmer kam, in dem ihre Cousine mittlerweile lag. Sie riss die Tür auf und sah einen besorgten Meister Rench am Bett der Patientin stehen. Cathyll lief auf das Bett zu und erschrak. Sybil hatte ein bleiches Gesicht und ihre Augen waren von einem glasigen Schleier überzogen. „Ist sie…?“, fragte Cathyll den Doktor. Der alte Mann mit dem schütteren Haar schaute sie an und sagte: „Nein, sie lebt, aber wie lange noch, das kann ich nicht sagen.“ Cathyll beugte sich über ihre Cousine und drehte deren Kopf behutsam etwas seitlich, damit sie sie sehen konnte. „Sybil, ich bin es, Cathyll.“ Gerade wollte sie sagen, dass alles gut wird, da wusste sie, dass sie diese Lüge nicht über die Lippen bringen würde können. Sybil bewegte kaum sichtbar den Mund und Cathyll lauschte angestrengt. „O...e“ Mehr konnte Cathyll nicht verstehen. Noch einmal gab die Kranke die kaum vernehmlichen Worte von sich, dann starrten ihre Augen ins Nichts. Cathyll wurde panisch. „Sybil? Sybil!“ Meister Rench kniete sich vor das Bett, schaute der Patientin in die Augen und fühlte den Puls. Dann schüttelte er den Kopf.
Cathyll war fassungslos. Sie wollte die Tote schütteln, wollte nicht akzeptieren was geschehen war. Stattdessen nahm sie die leblose Hand ihrer Cousine und drückte diese in einer letzten Geste des Abschieds. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie blieb noch eine Weile auf dem Bett sitzen.
Dann ging sie wie betäubt aus dem Zimmer und drückte sich an der Wand entlang zu ihrem Zimmer. Sie musste noch die Gäste empfangen, dachte sie sich, allerdings wusste sie nicht, wie sie das schaffen sollte. Als sie ihre Hände an den Wänden abstützte und in die Nähe ihres Privatgemaches kam, spürte sie wieder die feinen Linien, die in den Wänden eingeritzt waren, alte Verzierungen der Ca’el. Sie kannte diese Linien sehr gut und kannte auch die geheimen Stellen, die, wenn man an einem bestimmten Punkt einen Hebel umlegte oder einen Punkt in die Wand drückte, den Zugang zu einem geheimen Gang offenbarten.
So hatte alles angefangen, dachte Cathyll sich. Mit den geheimen Gängen war sie auf die Intrige ihres Beraters und ihrer Tante gestoßen. Ihre Finger blieben in einer kleinen Ku hle hängen, die, wie sie wusste, auf Druck einen Weg direkt in ein Zimmer im Obergeschoss freigeben würde. Welch Zufall, dachte Cathyll, der Weg führt sogar direkt in Sybils altes Schlafgemach.
Ohne darüber nachzudenken drückte sie mit der Hand gegen die Wand, und ein Spalt öffnete sich im Gemäuer . Dieser Teil des Palastes war nicht zugemauert worden. Sie ging in den dunklen Gang hinein und tastete sich weiter nach vorne, eins werdend mit der Dunkelheit, sie war ganz froh, dass sie sich in ihr verstecken konnte. Es ging um ein paar Kurven, immer leicht bergauf, doch schneller als erwartet befand sie sich wieder vor einer Tür, die sie aufdrückte, woraufhin sie sich in einer kleinen Kammer wiederfand.
Alles war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte, als sie in jener Nacht von Ma’an gerufen wurde mit der Nachricht, dass es ihrer Cousine nicht gut gehe. In der Ecke stand eine Kommode, neben ihrem Bett ein Stuhl, auf dem noch ihr
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