Die drei Frauen von Westport
nur, um später unweigerlich wiederzukehren: Nick auf dem College, Charlies Kredite fürs Medizinstudium mussten abbezahlt werden, die Kosten für dieWohnung um zehn Prozent gestiegen, die horrende Stromrechnung, dieTelefonrechnung – es war ihr ein Rätsel, wie ein einzelner Mensch so hoheTelefonkosten haben konnte –, und dann der Kabelanschluss und das Internet. Und wieso wurde man im R estaurant für einenTeller Pasta und ein GlasWein fünfzig Dollar los, und stimmte es wirklich, dass Leute Geld fürs Alter zurücklegten? Wie machten sie das bloß? Sie war immer davon ausgegangen, dass sie aufs Alter irgendetwas erben würde, aber diese Hoffnung hatte sie jetzt aufgegeben. Das Alter war bereits da, und es stank nach Geldsorgen. Sie war eine erfolgreiche Frau Anfang fünfzig und musste knausern wie als Studentin. Sie hatte ihreWohnung mit Hypotheken belastet bis zum Anschlag und lebte von diesem Geld und den Krediten, die man ihr noch gewährte. DieWohnung war ihr immer noch als Sicherheit geblieben; bei der gegenwärtigen Marktlage würde eineVeräußerung nicht einfach sein, aber selbst wenn es ihr gelänge, sie zu verkaufen, was dann?Wo sollte sie hingehen? Sie musste schließlich irgendwo leben. So wie ihre Freundinnen verbissen Sudoku-Rätsel lösten, um ihr bereits nachlassendes Gedächtnis zu trainieren, addierte Annie in ihren eigenen Rastern Hypothek, Einkommen und Unterhaltsschecks und rechnete die Summe gegen eine etwaige Mietsumme auf, wobei sie davon wiederum die Steuererleichterungen aufgrund der Hypothek abzog. Damit schlief sie abends ein – oder sorgte vielmehr effektiv für Schlaflosigkeit: Sie addierte, subtrahierte, seufzte, wälzte sich herum und zog im Dunkeln gequälte Grimassen.
Eines Abends, als sie in ihrerWohnung packte und alle privaten Dinge in einem Karton verstaute, damit die Leute, die hier zur Untermiete wohnen würden, nicht in ihren Papieren herumstöbern konnten – wiewohl Annie eigentlich nicht wusste, was die daran interessieren sollte –, stieß sie auf einen Brief ihrer Großmutter, Bettys Mutter, die vor zehn Jahren gestorben war.
Annie, mein Schatz, hatte sie geschrieben. Anbei ein Geburtstagsscheck zu dem wunderbaren Tag, an dem du elf Jahre alt wirst! Verbrauch ihn vernünftig. Opa hat hart gearbeitet, damit ich gut versorgt bin. Denk immer an diese weisen Worte deiner Großmutter, liebe Annie: Wenn du genug Geld hast, kannst du der Welt eine Nase drehen.
Unterschrieben war der Brief mit: In Liebe, deine Oma .
4
An einem strahlenden Augusttag ließen sie New York hinter sich und begaben sich auf ihrenTreck nachWestport.
»Es wird wie in einer Kommune sein«, bemerkte Miranda, die gerne die Sechzigerjahre sentimental verklärte, weil sie diese aufregende Zeit um wenige Jahre verfehlt hatte.
»Stimmt. Aber die in der Französischen R evolution«, versetzte Annie. Hatte sie diesem Irrsinn wirklich zugestimmt?Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie allerdings zugeben, dass sie so einsam wie nie zuvor in ihrem Leben war, seit ihre Söhne nicht mehr bei ihr wohnten.
Sie alle drei waren wie Little Bo Peep, das kleine Mädchen, das seine Schafe verloren hat. Betty hatte Josie verloren, Miranda die »Schrecklichen Schriftsteller« und Annie ihre Söhne.Wenn man von einer Drei alles wegnahm, blieben drei Nullen. Drei Nullen waren gleichbedeutend mit Kummer, Leere und Angst. Annie musste an Emily Dickinsons Gedicht über die Schlange im Gras denken und fühlte sich ein wenig besser. Dickinson gelang es sogar, Angst als etwas darzustellen, das wertvoll und nützlich war.
Annie, die auf dem R ücksitz saß, warf einen Blick auf ihre Mutter. Betty chauffierte den alten Mercedes den Merritt Parkway entlang, ließ sich bei jeder Steinbrücke über deren Schönheit aus und erging sich in Erinnerungen an die Zeit, als diese schmale, holprige und gewundene Straße noch ganz neu war. Annie empfand einen Anflug von Hochachtung. Ihre Mutter war auf ihre Art selbst eine Dichterin. Sie brauchte keine Emily Dickinson, um sich darauf zu besinnen, dass eine Schlange, die wie ein Kamm das Gras teilt, an die Sterblichkeit erinnert und dass Sterblichkeit wiederum auf das Leben verweist. Betty konnte sich an allem erfreuen, auch an diesem Exil. Sie konnte aus ihrer verheerenden Scheidung ein Picknick machen – diesesWort, das sie zumWeinen gebracht hatte. Das hatte Josie immer gesagt, wenn Betty sich wieder hemmungslos dem Optimismus ergeben hatte. »Es wird kein
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