Die drei Frauen von Westport
Horizont dahingleiten. Das war die Lösung. In einem Kajak konnte sie vollkommen allein und ungestört sein. Mit einem Kajak konnte sie die gesamte Küste abklappern, konnte die Gezeiten bei Old Mill und Burying Hill erkunden und die ganze Gold Coast entlang bis nach Southport paddeln, wo einer ihrer Autoren – der Radio-Talkmaster, der vor zwei Monaten vom Sender gefeuert worden war, weil er ein weibliches afroamerikanisches Kabinettsmitglied als »kleiner schwarzer Bimbo« bezeichnet hatte – früher gewohnt hatte.
Im Internet entdeckte Miranda Kajaks für 395 Dollar, die von der Segelschule des Longshore Country Club, dem öffentlichen Country Club vonWestport, zumVerkauf angeboten wurden.
»Ist das günstig?«, fragte Betty. »Vermutlich schon.«
»Andererseits kommt man mit Sachen aus zweiter Hand meist nicht zurecht«, wandte Miranda ein. »Ein neues wäre vielleicht doch sicherer.«
»Solltest du dir nicht lieber erst mal eins mieten?«, fragte Annie. »Und Unterricht nehmen? Du hast noch nie in deinem Leben in einem Kajak gesessen.«
»Ich dachte, du willst sparen! Unterricht kostet Geld«, erwiderte Miranda.
»Unterricht! Deine Schwester will doch nicht damit zur Olympiade, Annie.«
Aber Betty merkte, dass Annie sich aufregte. Daher nahm sie sie bei der ersten Gelegenheit beiseite und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm, wie sie es früher immer getan hatte, wenn die Mädchen sich gezankt hatten.
»Miranda muss jetzt ihre Innenschau betreiben«, erklärte Betty sanft. »Und wie soll ihr das gelingen ohne ein neues Kajak?«
Worüber Betty sich nicht weiter ausließ, war dieTatsache, dass sie ungeachtet ihrer Finanzmisere gerne jedwede Summe bezahlt hätte, damit Miranda wenigstens für einenTeil desTages das Haus verließ. Die Nähe zu ihrerTochter machte ihr zwar wirklich Freude. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit Betty zuletzt die Gelegenheit gehabt hatte, ihren Töchtern sowohl guten Morgen als auch gute Nacht zu wünschen. Es war angenehm, Miranda um sich zu haben, und es kam schließlich fast einemWunder gleich, wenn man in Bettys Alter mit einer kultivierten und interessanten erwachsenenTochter einen Kaffee trinken, zum Lunch einen Salat verspeisen und am Nachmittag ein TässchenTee genießen konnte. Doch konnte Betty nicht umhin festzustellen, dass grundsätzlich sie diejenige war, die für Kaffee, Salat undTee sorgte. Die kraftvolle Miranda, die ihr Leben in New York früher perfekt im Griff gehabt hatte und auch jetzt noch viel Energie auf ihre Seelenspaziergänge verwandte, war zuhause antriebslos und passiv.
Betty verbarg ihre Sorge vor ihrerTochter. Miranda brauchte jetzt eine Mutter, die stark war. Aber Betty litt mit Miranda, und nachts lag sie im Bett und sann darüber nach, was wohl aus ihrer hübschen, lebhaften, verantwortungslosenTochter werden sollte, die keinen Mann und keine Kinder hatte. Und jetzt überdies keine Autoren mehr.
Sie wusste, dass Miranda finanziell am Ende war – oder, wie Miranda selbst es formulierte, »vorübergehend nicht liquide« –, was angesichts ihres einstigen Erfolgs schlimm für sie sein musste. Mirandas Konten waren aufgrund dieses furchtbaren, endlosen und komplizierten Gerichtsverfahrens eingefroren. Als wären sie Lammkoteletts, dachte Betty, und sah die Konten im Geiste in Alufolie und mit einer weißen Eisschicht bedeckt vor sich.
Die arme Miranda hatte noch nie gut mit Geld umgehen können. Joseph hatte ihr immer schon geraten, mehr anzusparen, aber Miranda hatte nur gelacht und gesagt, Geld sei nur das Mittel, nicht der Zweck, und hatte wieder zigtausend Dollar für irgendeine Ökoreise an einen Ort ausgegeben, wo das Duschwasser grau war und man sein Klopapier in einem Abfalleimer entsorgen musste … Ach, das war alles so unbegreiflich. Wäre Joseph noch am Leben gewesen, hätte er ihr alles erklären können. Doch da Joseph eines tragischenTodes gestorben war, musste Betty hilflos und gepeinigt mit ansehen, wie ihreTochter unter ihren Geldsorgen litt. Miranda hatte sich noch nie um Geld Sorgen machen müssen, und es war nun besonders ungerecht, dass sie sich um etwas sorgen musste, das sie gar nicht mehr besaß.
Ein Kajak wäre bestimmt genau das Richtige, um Miranda aufzumuntern.Wenigstens würde sie dann mal eineWeile aus dem Haus sein, so dass Betty sich ihrer eigenen Seelenpflege widmen konnte, anstatt für ihre neunundvierzigjährigeTochter auf Zuruf – »so wie ich sie am liebsten mag,
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