Die drei Frauen von Westport
»Bravo!«
Weitere Bravorufe übertönten Mr. Shpuntovs nächste Äußerungen.
Schwindende Jahre, dachte Betty. O weh. Das hört sich gar nicht gut an. Der arme Mann. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte sie zu Mr. Shpuntov. »Man ist so alt, wie man sich fühlt.«
»Wieso redet diese alte Frau auf mich ein?«, fragte Mr. Shpuntov Cousin Lou. »Ich bin doch stocktaub.«
Es war Lou gewesen, der darauf bestanden hatte, seinen Schwiegervater bei ihnen einzuquartieren.Vorher hatte der alte Mann mit seiner Geliebten zusammengelebt, einer jüngeren Frau von zweiundachtzig Jahren. Aber sie war überraschend an einer Hirnblutung gestorben, und Mr. Shpuntov war mit drei ungebärdigen Hunden alleine in einerWohnung in Queens zurückgeblieben. R osalyn sprach von einem Heim, und Lou ging stillschweigend davon aus, dass sie damit ihr eigenes Heim meinte. Als R osalyn den Irrtum bemerkte, war es bereits zu spät: DieVorbereitungen waren zu weit fortgeschritten und vor allem bereits zu vielen Leuten bekannt, um noch einen R ückzieher zu machen. Mr. Shpuntov zog also in das große Haus inWestport und bekam ein Schlafzimmer und einen persönlichen Betreuer. (Die Hunde wurden Gott sei Dank vom Sohn derVerstorbenen übernommen – irgendwo musste man schließlich eine Grenze ziehen. Obwohl R osalyn nie sicher war, bis wohin sich diese Grenzen bei Lous Gastfreundschaft dehnen ließen.) Und so bekam der alte Mann einen Stammplatz an Lous lang gestrecktem Esstisch. R osalyn überschüttete ihn mit Meinungen und Bonmots, und Mr. Shpuntov, der zusehends störrischer wurde, verlangte lautstark Aufklärung darüber, weshalb er andauernd von diesem dürren alten Kerl mit der albern kaschierten Glatze belästigt wurde.
» Beautiful Baby «, trällerte Lou und zwinkerte Miranda zu.
Damit war Kit gemeint, der neben ihr saß. Am anderen Ende des Tisches war der schweigsame R oberts platziert, der an diesem Abend eine leuchtend gelbe Fliege trug. Lou machte nun eine Bemerkung über die Liebe im September und im Mai, diesen Monaten, die sehr unterschiedlich, aber gleichermaßen reizvoll seien. Er schien seinen Spaß daran zu haben, Kit und R oberts als Rivalen im Kampf um Mirandas Gunst gegeneinander auszuspielen. Annie fand diesesVerhalten ihres Cousins bemerkenswert taktlos, konnte allerdings nachvollziehen, was ihn dazu motivierte: Ihre Schwester war zurzeit so lebhaft und so wunderschön. Aber R oberts tat ihr aufrichtig leid. Sie sah ihn an, und als er ihren Blick bemerkte, trat ein vorsichtiges Lächeln auf seine Lippen.
Unwillkürlich verwickelte Annie R oberts nun in ein Gespräch, als sei es ihre Pflicht, den verschmähtenVerehrer irgendwie zu entschädigen, ihm eine Ablenkung zu verschaffen, indem sie ihn mit ihrer weitaus weniger glamourösen Aufmerksamkeit bedachte. Zu Anfang fiel es in derTat schwer, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, da R oberts auf Fragen jedweder Art äußerst einsilbig zu antworten pflegte. Doch im Laufe der Zeit taute er merklich auf, und als er sich wohler zu fühlen schien, erwies er sich als durchaus interessant und erstaunlich witzig.
»Wieso spricht Sie eigentlich jeder nur mit Ihrem Nachnamen an?«, fragte Annie. »Wieso werden sie immer nur › R oberts‹ genannt?«
Er lächelte bescheiden. »Das ist so wie bei R ockstars.«
DieWochen gingen ins Land, und dieTage wurden kürzer und dunkler, verkrochen sich, rollten sich ein wie Tiere, die sich zum Schlafen legen. Krähen schlummerten zwischen den fallenden Blättern. Die Kreditkartenrechnungen im Wisemen-Briefkasten wurden zusehends fetter, doch Betty und Josie hatten die Knitterfalten in ihrerTrennung nach wie vor nicht geglättet, Annie hatte immer noch nichts von Frederick Barrow gehört, und Kit verbrachte unverändert fast jedenTag und jeden Abend mit Miranda.
Er begleitete Miranda bei ihren Morgenspaziergängen, während Henry in einem olivgrünenTragegestell auf seinem R ücken schlief, sang oder quengelte. Miranda und Kit gingen langsam, beobachteten, wie der Himmel silbrig zu schimmern begann, und redeten.
Nachdem Kit Miranda anfänglich viele Fragen gestellt hatte, begann er nun – wie zu erwarten war – über sich selbst zu sprechen. Miranda bereitete sich gefasst darauf vor, ihm ebenso geduldig zuzuhören wie allen anderen, und wartete auf die Offenbarungen, mit denen immer zu rechnen war.
Doch statt von sexuellem Missbrauch im Internat, Misshandlungen durch Stiefväter oder dem verzweifelten Kampf gegen Cracksucht zu
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