Die drei Frauen von Westport
Musik, eine helle Piccoloflöte, der Gesang eines Jungen in seinem eigenen Chor. KeinWunder, dass die Leute sich Kinder zulegten, dachte Miranda. Ein Kind war alles: Kunst und Arbeit und Kultur. Ein Kind, so klein, so laut, nahm alle Zeit, alle Energie, alle Liebe in Anspruch. Es war so einfach: Man musste sich nur darauf einlassen, und schon war das ganze Leben bestimmt von dieser schlichten und liebenswerten Personifizierung von Bedürfnissen. Man hatte keineWahl mehr und musste nur noch Entscheidungen treffen, die jene kleine fordernde, diktatorische Person betrafen. Miranda empfand eine große Erleichterung: mit Henry zusammen zu sein war so simpel, so konkret, so essentiell, so wahrhaftig und absolut.
Wenn die Geschichten dann so langweilig wurden, dass man sie nicht einmal mehr überhören konnte, holte Miranda Henry von den Kanonen herunter, und sie spazierten gemächlich nach Hause, wobei sie immer wieder stehen blieben, um die Gaben der Ebbe zu würdigen: Miesmuscheln, den verlassenen, umgedrehten Panzer eines Pfeilschwanzkrebses, einen weißen Stein, rostrote Algen, den Duft von Salz und Meerluft und glitzernden glatten Schlick.
Eines Abends, als Annie mit dem Zug nach Hause fuhr, kam Kit in ihrenWagen. Er strich sich lässig die Haare aus der Stirn, und auf seinem Gesicht lag ein jungenhaftes, ziemlich umwerfendes Lächeln. Annie beobachtete ihn, wie er an ihr vorbei durch denWagen ging, und sah, dass sich mehrere Leute nach ihm umdrehten. Sogar ein Hingucker ist er, dachte sie amüsiert, aber sie konnte die R eaktion der Leute verstehen. Er war ein Prachtexemplar von einem Mann, ein Pfirsich, der am Baum reift. Unwillkürlich registrierte Annie seine starken Arme, die sich unter seinem Hemd abzeichneten. Sogar seine Handgelenke sahen jung und männlich aus. Viele Jahre hatte Annie die männliche Schönheit der Freunde ihrer Söhne vor Augen gehabt. In den Ferien kamen sie zum Übernachten, schliefen wie ein R udel Hunde dicht an dicht auf dem Fußboden und kamen dann morgens verschlafen, mit zerzausten Haaren und halb nackt, so schlank und wohl geformt wie griechische Statuen, in die Küche geschlurft. Sie blinzelten und räkelten sich und futterten, ohne sich ihrer Schönheit und der geschmeidigen Sprache ihrer jungen Körper bewusst zu sein. Annie hatte jegliche körperliche R eaktion bei sich selbst so schnell und radikal wie möglich ausgemerzt. Aber bewundern durfte man die Jungen schließlich – man konnte auch gar nicht anders.
In Anbetracht dieser zottigen Morgenparaden jungenhafter Schönheit fand Annie es naheliegend, den hübschen Kit zu verehren, und hätte sich nicht daran gestört, wenn Miranda dasselbe getan hätte. Aber ihre Schwester reagierte ganz anders auf Kit, als Annie es erwartet hätte. Miranda erwähnte ihn so gut wie nie, schwärmte nicht von seinenTugenden, die sich dann später als Laster erweisen konnten. Sie rief ihn nicht ständig an und kaufte keine übertrieben teuren Geschenke für ihn. Sie offenbarte nicht Schülerlotsen,Verkäuferinnen und dem Mann an der Fleischtheke überschwänglich, dass sie – endlich! – so wahnsinnig glücklich sei. Diesmal verliebte sich Miranda nicht Hals über Kopf und verkündete nicht, dass sie den Mann fürs Leben gefunden habe. Sie verbrachte nicht vierWochen lang jede wache Minute mit ihm, nur um sich dann die Augen auszuheulen, wenn sie feststellte, dass er Fundamentalist,Trinker, R epublikaner oder irgendetwas anderes war, das ihr missfiel. Diesmal hatte Miranda, deprimiert und orientierungslos durch denVerlust ihres über Jahrzehnte hart erarbeiteten Lebens, offenbar nicht die Kraft, sich in eine ihrer üblichen rauschhaften Liebesaffären zu stürzen. Ihre Beziehung mit Kit war anders – ausgeglichener, friedvoller, schlichter. Miranda wirkte glücklich, was wiederum Annie glücklich machte. Dennoch gab es Anlass zur Sorge. Denn wer hatte je eine gemäßigte Miranda erlebt? Ohne ihre Aura der Exaltiertheit schien Miranda so schutzlos zu sein. Sie hatte ihre Pose aufgegeben, die dramatische, leidenschaftliche, romantische Pose. Und das, dachte Annie mit Schaudern, bedeutete, dass nun alles Erdenkliche passieren konnte.
10
ZweiTage, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, gaben sich Kit und Miranda am späten Nachmittag zum ersten Mal der körperlichen Liebe hin. Henry schlief in seinem Bettchen. Das Licht war sattgolden, und die weißenVorhänge an den Fenstern flatterten lautstark im Wind, der vomWasser herüberwehte.
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