Die drei Frauen von Westport
»Na ja«, sagte sie betont munter. »Wir alle haben Grenzen, und wir müssen alle lernen loszulassen. Darin sind sich die Fernsehtherapeuten einig. Außerdem kommen die Jungs ja bald wieder. Und L.A. ist nicht so weit weg, oder?« Ihre Stimme klang sogar in ihren eigenen Ohren nicht überzeugend. »Jedenfalls heutzutage nicht.«
»Das stimmt wirklich, Miranda«, fügte Annie hinzu.
»Ach, ihr habt doch keine Ahnung«, fauchte Miranda.
Als sie in Lous Villa mit Blick auf den Long Island Sound zum R osch-ha-Schana-Essen eintrafen, war Miranda stumm und bedrückt. Seit der Abreise von Kit und Henry hatte sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester kaum einWort gewechselt, und Annie wunderte sich, dass sie überhaupt bereit gewesen war mitzukommen. Als Miranda aus ihrem Zimmer kam, zurechtgemacht und wunderschön, wenn auch mit finsterer Miene, legte sie kurz die Hand an die Stirn und schloss die Augen, und Annie machte sich auf eine theatralische Szene gefasst. Doch Miranda strich sich nur die Haare aus der Stirn und sagte: »Bringen wir’s hinter uns.« Vielleicht hatte sich ihre Neigung zu dramatischen Auftritten verflüchtigt, seit sie ernsthaft in Schwierigkeiten steckten. Annie beschloss, Mirandas Gefasstheit als gutes Zeichen zu deuten. Aber als sie bei Cousin Lou einen Blick auf das bleiche, starre Gesicht ihrer Schwester warf, wünschte sich Annie beinahe, Miranda würde toben und sich die Haare raufen.
»Ohne Klein-Henry wird’s hier nur halb so lustig sein«, bemerkte Annie und blickte auf die anwesenden Senioren, die alle hartnäckig von sich behaupteten, sie seien mittleren Alters. Der kleine Junge fehlte ihr tatsächlich, doch sie wollte auch ein wenig Mitgefühl an denTag legen – wiewohl Miranda solche Gefühlsäußerungen ihrer Schwester nicht selten als Mitleid oder Kritik auslegte. »Ich vermisse ihn jetzt schon.«
»Du hast doch Kinder.«
»Schon, aber …«
»Aber nichts«, entgegnete Miranda wütend und ließ Betty und Annie stehen, die daraufhin beide betroffen blickten und sich mies fühlten.
ImWohnzimmer standen schon Grüppchen von Leuten im angeregten Gespräch beisammen. Der Chirurg hatte den estnischen Kulturminister zur Loslösung von der Sowjetunion beglückwünscht, denn die Medizin im Sozialismus sei in furchtbarem Zustand, man müsse sich ja nur mal Kanada anschauen, woraufhin der Anwalt einwandte, in Kanada gäbe es keine Gesetze zur ärztlichen Schweigepflicht. Die Dame aus dem städtischen Schwimmbad gab hierauf zu bedenken, dass Privatsphäre auch kein Thema wäre, wenn man nichts zu verbergen hätte. Der Metallbildhauer bemerkte, als Künstler könne man aber in Montreal wegen der günstigen Mieten und staatlichen Förderungen gut leben, auch ohne Schweigepflicht und mit schwächerem US-Dollar, woraufhin der Chirurg einwandte, staatliche Förderung nütze einem auch nichts, wenn man ein halbes Jahr auf eine Knieoperation warten müsse und der Arzt dann nur Französisch spräche.Was den Erfinder dazu bewog, sich darüber zu beklagen, dass das zügellose Benehmen des französischen Staatschefs Sarkozy vielleicht doch nicht so gut für die Juden sei, wie man anfangs gehofft habe.
»Président Bling-Bling«, äußerte Cousin Lou genüsslich.
»Ah, Betty!«, rief R osalyn unvermittelt und schwenkte beim Stichwort Bling-Bling demonstrativ ihr Handgelenk, an dem ein schweres Goldarmband mit Smaragden prangte. »Wie findest du’s?«
»Wunderschön. Ganz zauberhaft.«
»Nicht zu auffällig? Es soll nicht protzig sein. Bei der schlechten Wirtschaftslage wirkt das sonst schnell geschmacklos. Ich möchte mich in diesen Dingen sensibel zeigen.«
»Nun, da es Cabochons sind, wirken sie dezenter.«
»Ich bin ein Limousinen-Liberaler«, verkündete Cousin Lou. »Warum soll man es sich nicht gut gehen lassen?«
»Du warst immer schon ein Bilderstürmer, mein Lieber«, erwiderte R osalyn und tätschelte ihrem Gatten nachsichtig den Arm.
Es gab hervorragendenWein. Anfänglich hatte R osalyn sich bemüht, die Kosten der Feste zu senken, indem sie den zahlreichen Gästen preisgünstigerenWein vorsetzte, doch davon wollte Lou nichts wissen.
»Aber es ist jeden Abend jemand da«, hatte R osalyn eingewandt.
»Und wir auch«, hatte Lou entgegnet.
R osalyn fügte sich den vermeintlich eigennützigen Motiven ihres Mannes, aber inWahrheit hätte Lou seinen Gästen auch exzellentenWein serviert, wenn er selbst nurTee getrunken hätte.Trotzdem genoss er es, mit seinen Gästen ein Glas oder
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