Die drei Frauen von Westport
beraubt, wirkten die monumentalen Häuser dahinter nicht mehr wie vornehme Anwesen, sondern bestenfalls wie kultivierte New-England-Hotels. Annie rief mehrmals heimlich den Professor an, der ihre Wohnung gemietet hatte, um zu hören, ob er früher ausziehen wollte – doch er hatte keinerlei Interesse daran. Betty stand stundenlang am Schlafzimmerfenster, ihrem Witwenausguck, und sann bitter darüber nach, dass sie weder spazieren ging noch eine Witwe war, sondern lediglich in Westport im Höllenfeuer festsaß. Und Miranda? Sie war still; stiller als die beiden anderen Frauen sie jemals erlebt hatten.
Miranda war bewusst, dass sie ein furchtbares Drama abzog, aber sie konnte einfach nicht damit aufhören. Sie merkte durchaus, dass ihreVerdrossenheit in gewisserWeise ihrenTobsuchtsanfällen glich – beides strahlte letztlich Hilflosigkeit aus. Aber sie konnte weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer Schwester über Kit und Henry sprechen, und sie hatte nun mal nichts anderes im Kopf als Kit und Henry. Manchmal spürte Miranda, dass sie ihre Gefühle für die beiden hortete, versteckte und beschützte wie ein Eichhörnchen seine Nüsse. Sie waren wie ein Schatz, dieser vergrabeneVorrat an intensiven Gefühlen und Leidenschaft. Dann wieder schien sie die beiden zu verlieren, als seien sie schon lange tot und sie könne sich nicht mehr an ihre Gesichter erinnern.
Was um alles in derWelt war geschehen? Sie spürte nach wie vor das Frösteln an ihrer Handfläche, als Kit amTag der Abreise vor ihr zurückwich, einem scheuenden Pferd gleich.
Annies Tage verliefen nun mit einer beinahe beruhigenden R egelmäßigkeit: tagsüber arbeiten, sich nachts Sorgen machen, sich morgens in eisigem Wasser Gedanken hingeben, die zu nichts führten. An einem dieser typischen fahlen, mattgrauen Morgen pflügte Annie sich wieder einmal durch das kalteWasser des Long Island Sound. Sie schätzte die Klarheit der Kälte, die Dunkelheit des schwarzenWassers, die Ehrlichkeit des Alleinseins. Sie schwamm mit kraftvollen, gleichmäßigen Bewegungen, atmete im eiskaltenWasser aus, drehte sich dann auf den R ücken und sog in tiefen Zügen die Luft des frühen Morgens ein. Dabei dachte sie besorgt über Geld, das hartnäckige Witwengetue ihrer Mutter und das verdrossene Schweigen ihrer Schwester nach und endete wie immer mit ihren Gedanken bei Frederick. Sie erinnerte sich an sein anerkennendes Lachen über eine Äußerung von ihr; die Bemerkung war ihr entfallen, doch sein Lachen hörte sie noch klar und deutlich. Und sie sah seine dunklen Augen, den schelmischen Blick, der ihr so viel sagend und gefühlsbetont zu sein schien. Oder hatte sie ihn falsch gedeutet? Hatte sie seinen Blick und seine Gefühle missverstanden? Konnte sie sich so sehr irren? Nein. Nein, obwohl Frederick nicht angerufen und an R osch ha-Schana so distanziert gewesen war, war Annie sicher, dass sie sich nicht irrte.Was allerdings auch nichts änderte an der Lage: Er hatte sie nicht angerufen, bei ihrer letzten Begegnung war er unverbindlich gewesen, er war ihr so fern, als hätte er niemals auch nur das Geringste für sie empfunden.
Miranda hatte es aufgegeben, Annie mit Frederick zu necken, was eine Erleichterung, aber auch eine betrübliche Bestätigung Annies eigenerVermutung war, dass diese Affäre tatsächlich beendet war. Allerdings konnte man mit Miranda in letzter Zeit wirklich über gar nichts mehr reden. Mirandas neue Schweigsamkeit war genauso ein Theater wie alles andere, was ihre Schwester machte, dachte Annie ärgerlich.
Im Cottage saß Miranda am Küchentisch und starrte unverwandt auf eine große Orange in ihren Händen.
»Schatz«, sagte Betty, die hereingeschlurft kam und nun hinter Miranda stehen blieb. Sie beobachtete, wie ihreTochter die Frucht auf dem Tisch hin und her rollte, und fügte hinzu: »Schatz, vielleicht solltest du dir ein Hobby zulegen.«
Miranda lachte. »’n Nobby?« Das bezog sich auf einen Witz über den R uhestand, den Josie immer gerne erzählt hatte.
Ein alter Mann, der gerade in R ente gegangen und nach Florida gezogen ist, fragt einen anderen alten Knaben: »Wie hältst du das denn aus? Ich finde es schon nach zweiTagen langweilig.«
»Ganz einfach«, antwortet der andere mit starkem jiddischem Akzent. »Ich hab ’n Nobby.«
»Ein Nobby?«, fragt der erste alte Mann. »Was soll denn das sein?«
»Na, ’n Nobby, ’n Nobby – wie Briefmarken sammeln.«
»Du sammelst Briefmarken?«, fragt der erste.
»Briefmarken?
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