Die drei Frauen von Westport
Lampe abzuholen. Annie hatte sich dann schließlich darauf eingelassen, Josie in seinem Büro anzurufen, um einenTermin zu vereinbaren.
»Josie? Hier ist Annie.«
»Ich weiß, dass du es bist, Schatz. Wie viele Leute nennen mich denn schon so?«
Annie meinte, R ührung in seiner Stimme zu hören. Nicht schwach werden, befahl sie sich.
»Ich habe schon ein paar Mal angerufen«, sagte Josie. Er klang verletzt.
»Ich weiß.« Annie warf einen Blick auf die drei rosa Zettel mit seinem Namen, die auf ihrem Schreibtisch klebten.
»Na ja, macht nichts. Jetzt hast du ja zurückgerufen. Wie geht’s euch Mädels? Und eurer Mutter?«
»Hör zu, ich muss nur in dieWohnung. Mom möchte die Stehlampe aus dem Schlafzimmer.« Annie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Aus ihrem Schlafzimmer.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen.
»Josie?«
»Ja. Okay. Ozzie soll sie euch runterbringen.Wann es bei euch passt.«
Ozzie war das Faktotum. Annie fragte sich, ob er ihre Mutter vermisste.
»Nicht nötig«, erwiderte sie. »Ich habe einen Schlüssel. Ich wollte dir nur Bescheid sagen.«
»Hm«, machte Josie. »Ähm, es ist so: Ich habe das Schloss austauschen lassen.«
»Was?«, sagte Annie, obwohl sie ihn verstanden hatte.
»Ich fand das sinnvoll«, sagte er.
»Großer Gott, Josie.«
»Ich weiß.«
»Sinnvoll? Großer Gott.«
Dann verfielen sie beide in Schweigen, aber keiner legte auf.
»Tut mir leid, Schatz«, murmelte Josie schließlich. »Tut mir so leid.«
Annie saß in ihrem Büro, einem kleinen Hinterzimmer im Erdgeschoss der Bibliothek. Durch das Fenster blickte man auf eine mit Efeu bewachseneWand. Das Fenster musste dringend geputzt werden. Ihr R ücken schmerzte. Sie war seit einerWoche nicht mehr geschwommen, weil es jetzt sogar mit Neoprenanzug zu kalt war. Morgen würde sie vielleicht mal ins Stadtbad gehen. Sie dachte an all diese Dinge und betrachtete den spärlichen Strahl Stadtsonne, der auf ihren Schreibtisch fiel, aber eigentlich hatte sie nur einen einzigen Gedanken im Kopf: O Josie. Wie konntest du das nur tun, Josie?
»Wann kommst du?«, fragte er jetzt.
»Samstag.«
»Okay.«
»Gut.«
Annie dachte: Das ist der Mann, der mich großgezogen hat, der meinVater war.
»Lass uns doch zusammen zu Abend essen«, sagte Josie. »Du und Miranda?«
Annie wollte gerade nein sagen, als er mit absolut kläglicher Stimme hinzufügte: »Bitte?«
Deshalb fuhren Miranda und sie nun in die Stadt, um eine überflüssige Lampe abzuholen und mit einem überflüssigen Exvater zu Abend zu essen.
»Ich hasse ihn«, sagte Miranda. »Warum machen wir das überhaupt?«
»Keine Ahnung. Ich bin schwach geworden, schätze ich mal. Seine Stimme … war herzzerreißend.«
»Pah.« Miranda verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich halte Männer für große Babys.«
»Infantile Grandiosität. Hat mir immer gefallen, der Ausdruck. Ist so schön griffig.«
»Aber echte Kinder halten sich nicht für grandios, sondern sie sind tatsächlich großartig. Denk doch nur an Henry«, erwiderte Miranda.
Annie erinnerte sich, wie Henry imWohnzimmer auf dem Boden mit seinem Auto gespielt hatte, beobachtet von vier entzückten Erwachsenen. Und sie erinnerte sich an eine andere Szene am selbenTag. Henry war mit Betty auf der Couch eingeschlafen. Kit und Miranda kamen von einem Spaziergang zurück, stiegen die brüchigeTreppe zum Wintergarten hinauf und ließen die Tür offen. Annie stand an einem Fenster mit Blick auf den Wintergarten und entfernte trockene Blätter von einem R osenstrauß, den Kit ihnen vor einerWoche mitgebracht hatte. Sie sah die beiden fast nur aus dem Augenwinkel. Sie waren stehen geblieben, und Kit streckte die Hand aus und berührte Miranda an der Schulter, so sachte und sanft wie der spielerische Pfotenhieb einer Katze. Und die beiden lachten leise und innig.
Annie wünschte, sie hätte die Szene nicht gesehen. Sie bereitete ihr Sorgen. Sie hatte sich schon immer Sorgen um Miranda gemacht. Sogar als es Miranda gut ging, hatte Annie ein Auge auf sie gehabt. Das war ein R elikt aus ihrer Kindheit – ein gewisses Misstrauen gegenüber ihrer jüngeren Schwester, die so viel verlangte und den Löwenanteil der Zuwendung ihrer Eltern aufzubrauchen schien. Und zugleich war dieses Verhalten ein Kraftquell für Annie, sie schützte sich selbst, indem sie sich diese wichtige R olle der Beschützerin ihrer Schwester zuwies und die Aufgabe überaus ernst nahm. Schon als kleines Mädchen hatte Annie diese
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