Die drei Frauen von Westport
Konstellation verstanden. Wenn sie sich nicht um Miranda kümmerte, was blieb dann für sie übrig? Nur Ablehnung, und das war ein unschönes Gefühl. Annie liebte Miranda, fand es unmöglich, sie nicht zu lieben, und hatte schon in der Kindheit einen Weg entdeckt, wie sie ihre Liebe mit Würde zum Ausdruck bringen konnte: durch Sorge.
Sie sind wirklich gute Freunde, sagte sich Annie an diesemTag, als sie Kit und Miranda im Wintergarten sah. Freunde, dachte sie dann noch einmal mit Nachdruck. Dann folgte das wahreWort, denn sie konnte ihren Augen nicht so sehr misstrauen: ein Liebespaar. Und plötzlich empfand Annie sowohl Neid als auch Mitleid mit Annie.
Doch sobald die beiden insWohnzimmer traten, schien es, als gäbe es den jungen Mann an Mirandas Seite gar nicht mehr. Miranda blieb vor dem Sofa stehen, und ihr lebhaftes und energisches Gesicht wurde ganz plötzlich weich und wunderschön. EineWandlung, hatte Annie damals gedacht. Frieden, dachte sie. Miranda im Frieden mit sich. Und sie war dem Blick der Schwester, in dem pures, grenzenloses Glück lag, mit den Augen gefolgt zu seinem Ziel, einem kleinen Jungen, der blinzelnd und Daumen lutschend und schläfrig lächelnd auf der Couch lag.
»Wie geht’s denn eigentlich dem kleinen Henry?«, fragte Annie nun, als sie dem Sonnenuntergang entgegenfuhren.
Miranda schwieg.
Vielleicht hatte sie die Frage nicht gehört. Annie warf einen Seitenblick auf ihre stumme Schwester, deren Profil sich gegen das Fenster abzeichnete. Eine Sonnenbrille verdeckte ihre Augen.
Wortlos blickte Miranda zum Fenster hinaus auf die kahlen Novemberwälder.
Annie wiederholte ihre Frage nicht.
Josie hatte sich mit ihnen in einem kleinen Bistro verabredet, das sie alle gemocht hatten, als die Familie »noch intakt« war, wie Miranda sich ausdrückte. »Er hätte wirklich was Neutraleres aussuchen können«, sagte sie.
»Ich glaube nicht, dass er neutral sein möchte.«
»Gewiss doch.«
»Glaubst du, dass er neutral sein kann oder sein möchte?«, fragte Annie.
»Weiß ich nicht, Annie. Wieso musst du immer alles mit Bedeutung versehen? Du weißt, was ich meine.«
Und nachdem Annie sich automatisch kurz geärgert hatte, musste sie zugeben, dass sie in der Tat wusste, was ihre Schwester meinte.
Josie war noch nicht da, aber der Tisch, an dem sie immer gesessen hatten, war vorbereitet; er musste ihn reserviert haben, denn im R estaurant herrschte reger Betrieb. Annie und Miranda ließen sich nieder und warteten, beide mit unklaren Gefühlen. Dann kam Josie herein, und in beiden Frauen brandeten Liebe, Scham und ohnmächtigeWut auf.
Josie sah zugleich älter und jünger aus. Wie kann das sein?, fragte sich Annie. Sie hatten ihn monatelang nicht gesehen, und da war er nun, ihr Josie – irgendwie kleiner, grauer, dünner, aber sein Schritt war federnd, und er bewegte sich so leicht und sorglos. Wie konnte er es wagen, sorglos zu sein, während ihre Mutter unter ihrer Sorgenlast beinahe zusammenbrach?
»Ihr Mädchen fehlt mir«, sagte er.
»Und wer ist schuld daran?«, versetzte Miranda.
Joseph starrte auf seine Töchter, seine kleinen Mädchen. Miranda hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schob trotzig die Unterlippe vor, so wie sie es als wirkliches kleines Mädchen gemacht hatte. Sie funkelte ihn wütend an, was nicht so schlimm war wie dasVerhalten von Annie, die ihn nicht mal anschaute. Oh, was hatte er nur getan? Sein ganzes Leben war verloren gegangen, im Handumdrehen. Betty war verloren, Betty mit ihren Picknicks. Es war ein Familienscherz gewesen, dass Betty aus allem ein Picknick machte. Bei Betty wurde alles zum Ausflug, sogar die Fahrt zur Kraftfahrzeugbehörde, um die Nummernschilder von ihrem altenWagen abzugeben. Ach, lass uns doch zusammen fahren, sagte Betty dann. Danach gehen wir zu der Zweigstelle in der Innenstadt und machen einen Spaziergang amWasser, schauen uns die Schiffe an, wieTouristen. Das ist aber kein Picknick, pflegte er dann zu sagen. Sie hätten es zusammen so schön haben können auf ihre altenTage, hätten sich das Alter mit Picknicks versüßen können. Aber ein Picknick war ein altmodischer Zeitvertreib, und Joseph war noch nicht bereit fürs Alter. Felicity hatte ihre junge Hand ausgestreckt und ihn aus diesem Sumpf herausgezogen.
»Ich denke nicht, dass es juristisch zulässig ist, Mom aus derWohnung auszuschließen«, sagte Annie. »Und falls es doch zulässig sein sollte, ist es jedenfalls moralisch nicht vertretbar. Und zwar
Weitere Kostenlose Bücher