Die drei Lichter der kleinen Veronika
damit ihr es richtig versteht, wenn ich euch von den Toten in der Kirche zu Halmar erzähle. Ihr werdet vielleicht denken, das seien alte Geschichten, und wer weiß, ob sie wahr sind – aber glaubt es mir, es sind Geschichten, die jeden Tag wieder neu werden können. Denn die Toten stehen neben euch.
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Es war eine seit Jahren beachtete Gewohnheit, daß im Hause der Schatten der Geburtstag von Tante Mariechen sehr feierlich begangen wurde und sich Freunde und Bekannte bei ihr versammelten, denn sie war die Älteste von allen und stand dem vor, was häuslich war im Sinne der Menschen von heute. Tante Mariechen betrachtete diesen Festtag auch stets mit besonderer Wichtigkeit. Sie buk gewaltige Berge von Kuchen, damit nicht einer ihrer Gäste unterernährt wieder von ihr ginge, und es war dies auch niemals geschehen, solange man sich überhaupt besinnen konnte.
Peter und Zottel erschienen als erste Gäste, aber sie blieben meistens im Kinderzimmer, weil Peter nicht gerne unter ihm fremden Menschen war. Es waren heute schon viele gekommen und wieder gegangen. Jetzt saßen im großen Saal, der an das grüne Zimmer grenzte, Ulla Uhlberg neben Johannes Wanderer, Pastor Haller mit seiner Frau und Doktor Gallus. Regine war zurückhaltend wie immer, Tante Mariechen ein wenig aufgeregt, und Veronika teilte ihre Anwesenheit zwischen den Gästen und dem blöden Peter im Kinderzimmer. Magister Mützchen folgte ihr stets getreulich, während Mutzeputz nur dazwischen, unzufrieden mit den zahlreichen Störungen seiner Ruhe, ins Vorzimmer guckte, wenn ein neuer Gast erschien. Er liebte Lärm und Bewegung im Hause nicht und sah unverkennbar mißbilligend aus.
Auch Pastor Haller war heute verstimmt, obschon er sonst keine Beziehung zu Mutzeputz hatte. Im Gegenteil, die philosophische Beschaulichkeit, die Mutzeputz in reichstem Maße besaß, fehlte Pastor Haller gänzlich, und heute mehr denn je, denn er ereiferte sich über das angebliche Krötenwunder, mit dem ihm Eriksen offenbar sehr heftig zugesetzt hatte.
»Es ist ausgeschlossen, daß ich sozusagen von kirchlicher Seite einen solchen Aberglauben gutheißen kann. Ich kann ihn dulden, vielleicht darüber wegsehen, aber Eriksen verlangte ja geradezu von mir eine Anerkennung seiner verstiegenen Wundertheorien und, was das schlimmste ist, er steckt die Leute von Halmar, die sowieso schon zu solchen dunklen Geschichten neigen, an.«
»Mir ist es nicht unlieb, wenn die Kröten ordinieren«, meinte Doktor Gallus, gleichgültig gegen des Pfarrers gekränkten Eifer, »ich habe dann eine Vertretung, wenn ich mich einmal zurückziehe. Also.«
»Die Kröte soll nicht ordiniert haben, Herr Doktor«, warf Johannes Wanderer ein, »es wird nur behauptet, daß sie geheilt habe. Sie müssen gerecht sein und zugeben, daß es zweierlei ist. Warum soll eine Kröte nicht heilen, ohne zu ordinieren? Es gibt ja auch Ärzte, die ordinieren, ohne zu heilen.«
Doktor Gallus schnappte schnabelähnlich mit der Kinnlade.
»Bei Ihnen weiß man nie, ob Sie mehr gutmütig oder bissig sind, ganz wie mein Papagei.«
»Ich habe nichts Boshaftes damit sagen wollen, Herr Doktor«, meinte Johannes Wanderer, »vor allem nichts gegen Sie. Daß Sie geheilt haben, weiß ich, und mit welcher Liebe Sie den armen Peter behandelten, als er krank war, werde ich nicht vergessen. Wollen wir vom Ordinieren einmal absehn. Glauben Sie zum Beispiel nicht, daß Sie auch eine Kraft in Wirkung setzen, wenn Sie mit Ihrer ganzen Anteilnahme einem Kranken behilflich sind, wenn Sie Mühe und Unbequemlichkeiten überwinden, die Ihnen oft vielleicht ein recht fühlbares Opfer sind? Sie sind nicht mehr der Jüngste, und doch sind Sie Tag und Nacht in Bereitschaft. Denken Sie nicht, daß solch eine Kraft auch Hilfe und Heilung in sich tragen kann, oft mehr als eine Ordination? Heilen ist eine Kunst und als solche spirituell, nicht mechanisch, wie eine heutige medizinische Dekadenz glaubt. Ist Ihre Kunst aber unwägbar, kann es dann nicht auch einmal andere unwägbare Kräfte geben, die sich irgendwie mit einer armen verfolgten Kröte verbinden? Zudem soll das im Schlaf geschehen sein. Wo sind wir, wenn wir schlafen? Der Schlaf ist eine andere Welt. Die Wissenschaft weiß nichts von ihm, und doch ist er fast unser halbes Leben.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Doktor Gallus, »wir wissen alle wenig, und wir kennen auch die Kraft nicht, die heilt. Ganz kann ich Ihnen freilich nicht folgen, aber ich verstehe auch nicht alles, was
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