Die dreißig tolldreisten Geschichten - 2 (German Edition)
Mehrzahl der Gäste, die näheren Verwandten brauchten sich nun weniger Zwang anzutun, und schon bei der Abendmahlzeit erhielt der arme Polizeihauptmann teils mit Mund, teils mit Auge eine Aufforderung, auf die er nicht wie in seinen prozessualen Verfahren mit Aufschub und Terminverlegung antworten durfte.
Bereits vor dem Essen hatte die Dame von Amboise ihre ganze Kriegslist aufgewandt, um den guten Braguelongne aus dem Saal zu ziehen, wo er mit der Neuvermählten zusammensaß. Der Polizeihauptmann war aber wie festgeleimt. Statt seiner erhob sich der Bräutigam, um mit der Mutter seiner geliebten Frau sich ein Stündchen im Garten zu ergehen; denn in dem Gehirn dieses immer noch nicht ganz entmönchten Mönchleins war ganz plötzlich, wie ein Pilz in der Nacht, ein rettender Gedanke aufgeschossen, nämlich der: diese gute Dame, die er für ein Muster der Sittsamkeit hielt, um Rat und Beistand anzugehen in seiner vertrackten Lage. Er erinnerte sich der weisen Lehren seines Abtes, der ihn stets ermahnt hatte, sich in allen Zweifeln an ältere und erfahrene Leute zu wenden, die das Leben kennen. Aber er war so schüchtern und verschämt, daß er wohl ein halbes dutzendmal in der Galerie auf und ab wandelte, ohne ein Wort hervorzubringen. Auch die Dame schwieg hartnäckig. Sie kochte innerlich vor Wut über die gespielte Blindheit, Taubheit und Lahmheit des Herrn von Braguelongne; und indem sie an der Seite dieses wunderlichen Junggesellen wandelte und sich nicht denken konnte, daß der galante Kater an ihrer Seite nach ranzigem Speck lüstern sein könnte, während er mit frischem wohlversehen war, verbohrte sie sich innerlich immer tiefer in ihren Groll.
›Dieser Hannepampel‹, sagte sie in sich hinein, ›dieser Zottelbart, dieser alte, graue, zerzauste, zerknitterte Bart, dieser Dummerian von Bart, dieser Bart ohne Scham und Respekt vor der Frau, dieser hängende Schnauzbart, der so tut, als ob er nicht höre, nicht sehe, nicht verstehe, dieser niederträchtige, niederschlächtige, dieser schimmelige Bart! Möcht er doch die französischen Pocken kriegen, der Lumpenkerl, dieser Kerl mit seiner grüngelben Nase, mit seiner unsaubern Nase, mit seiner kalten, welken, runzligen Nase, mit seiner Nase ohne Tugend und Religion, mit seiner hundsschnauzigen Nase, mit seiner Nase, die längst den Geist aufgegeben hat, die nur noch der Schatten von einer Nase ist, die zusammengeschnurrt ist wie ein dürres Weinlaub, mit dieser Nase, die ich hasse, dieser alten Nase, dieser windbeuteligen Nase, dieser Totennase! Wo hab ich nur meine Augen gehabt, mich an diese Knollennase, diese Kartoffelnase zu hängen ... an diesen alten, eingerosteten Riegel, der seine Öse nicht mehr findet. Mag sie doch zum Teufel fahren, diese alte ehrlose Nase, dieser Bart ohne Kraft und Saft, dieses alte graue Haupt, dieses Nußknackergesicht, dieser Pinsel von einem Menschen, dieser Lumpensäckel, dieser – ich weiß nicht was. Ich will mir einen jungen Mann nehmen, der mich liebt, sehr liebt, der mich alle Tage liebt und zu jeder Stunde, der mich ... ‹
Bei diesem weisheitsvollen Gedanken war sie angekommen, als der gelbschnäblige Nestling an ihrer Seite sich endlich ermannte, ihr sein kurioses Liedlein zu pfeifen. Das war Musik für ihre gekitzelten Ohren, und sie wurde Feuer und Flamme, sobald sie begriff, welches der Text sei zu seinen seltsamen Glossen. Ein alter mürber Zunder auf dem Feuerschloß eines Landsknechts kann sich nicht rascher entzünden. Aber sie hielt es für klug, ihrem Herrn Schwiegersohn nicht sofort zu antworten.
›O Bart voll duftender Wohlgerüche‹, sagte sie sich in ihrem Innern, ›du frischer, blühender jungfräulicher Bart, du flügge gewordener Nestlingsbart, du Milchbart, du Erstlingsbart, du Frühlingsgewächs ... du Nase voll Stolz und Kraft, du goldene Gelbschnabelnase, du Liebtrost, du Liebreiz von einer Nase.‹
Sie hatte Zeit, ihre Litanei noch lange fortzusetzen; denn durch den ganzen Garten hin und zurück hielt sie den Jüngling in Hangen und Bangen. Zuletzt machte sie mit ihm aus, daß er in der Nacht, sobald es anginge, seine Schlafkammer verlassen und zu der ihrigen hinaufsteigen solle, dann wolle sie ihn unterrichten, daß er gelehrter sein werde als sein Vater, wenn er sie verlasse. Der mönchische Ehegemahl war ganz glücklich über diesen Bescheid, er bedankte sich bei der Dame von Amboise, und indem er sie bat, niemand etwas von dem Handel zu verraten, nahm er Urlaub von
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