Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition)
Verträgen. gemäß, zurückfielen. Jehan war zwanzig Jahre alt, blühend vom Feuer der Jugend, und ihr könnt euch denken, wie langsam ihm dieser erste Tag herumschlich.
Als dann der alte Imbert endlich davongeritten, setzten sich die beiden Frauen in den Erker über der Fallbrücke, um dem Scheidenden so lange als möglich nachzusehen und ihm tausend Abschiedsgrüße zuzuwinken. Nachdem aber das letzte Staubwölkchen von den Hufen der Pferde am Horizont verraucht war, stiegen sie herunter und zogen sich in das Gemach zurück.
»Was wollen wir treiben, schöne Muhme?« sagte Berthe zu der falschen Sylvia. »Liebt Ihr die Musik? Wir könnten ein Duett singen, eines der alten Minnelieder vielleicht? Sagt, ist das Euer Geschmack? So kommt an mein Instrument. Tut mir die Liebe. Singen wir eines zusammen.«
Hierauf nahm sie Jehan bei der Hand und zog ihn zu ihrer Harfe, wo sich der gute Junge zierlich nach Art der Frauen niederließ.
»Oh, schöne Muhme«, rief Berthe, nachdem die ersten Noten erklungen und der Page ihr den Kopf zuwandte, damit sie den Gesang zusammen anstimmten, »oh, Ihr habt seltsame Augen, Ihr bewegt mir mit Euren Blicken, ich weiß nicht wie, das Herz.«
»Meine süße Muhme«, log die falsche Sylvia, »diese Augen waren die Ursache meines Verderbens. Ein edler Lord von jenseits des Meeres fand soviel Zauber darin und küßte sie so gern und so oft, daß ich, da ich sie zu gern küssen ließ, dabei gestrauchelt bin.«
»So schleicht sich die Liebe also durch die Augen ein?«
»Im Feuer der Augen werden Kupidos Pfeile geschmiedet«, antwortete der Verliebte, indem er Berthe einen flammenden Blick zuwarf.
»Singen wir, Sylvia?«
Und also sangen sie auf den Wunsch der falschen Base ein Lied der Christine von Pisan, in dem viel von der Liebe die Rede war.
»Oh, Sylvia, welche Tiefe, welcher Klang ist in Eurer Stimme, sie dringt mir bis ins Innerste der Seele.«
»Und wo sucht sie Eure Seele?« fragte die verdammte Sylvia.
»Hier«, antwortete Berthe und deutete auf die Gegend des Zwerchfells, auf das in der Tat die Klänge der Liebe stärker wirken müssen als auf das Trommelfell des Ohrs, da es dem Herzen näher liegt, wie auch der anderen Sache, die ihr kennt und die im Weibe das Gehirn vertreten muß, wie nicht weniger das Herz und das Ohr – was ich in allen Ehren und allein aus physikalischen Gründen hier ausgesprochen haben will.
»Lassen wir die Musik«, hauchte Berthe, »sie erregt mich zu sehr. Kommt zum Fenster, wir wollen bis zur Vesper kleine Handarbeiten machen.«
»Oh, teure Muhme, ich habe nicht gelernt, mit der Nadel umzugehen, ich hatte anderes zu tun bisher.«
»Aber womit brachtet Ihr den ganzen Tag zu?«
»Mit der Liebe, die die Tage zu Augenblicken umwandelt, die Monate zu Tagen und die Jahre zu Monden; die, wenn sie ewig ist, die Ewigkeit zum Hauch macht, da alles an ihr Glück ist und himmlische Seligkeit.« Nachdem er so gesprochen, senkte der Jüngling die Wimpern seiner schönen Augen und verfiel in trauriges Nachsinnen, wie eine Dame, die ihrem ungetreuen Liebhaber nachtrauert und ihm alles verzeihen möchte, wenn er nur wieder in ihre treuen Arme zurückkehren wollte.
»Sagt, Muhme, ist die Liebe auch im Ehestand zu finden?« »O nein«, antwortete Sylvia, »in der Ehe ist alles Pflicht, aber in der Liebe ist alles ein freies Geschenk. Dieser Unterschied verleiht den Liebkosungen, die die Blüten der Liebe sind, einen ganz besonderen Duft.«
»Lassen wir dies Gespräch, Muhme, das ist noch aufregender als Musik.«
Sie läutete einem Diener, befahl ihm, ihren Sohn herzuführen, und Sylvia, ihn erblickend, rief aus:
»Ah, er ist schön wie Gott Amor.« Dabei küßte sie ihn auf die Stirne.
»Komm, mein Liebling«, sprach die Mutter, in deren Schoß sich der Kleine warf, »komm, du bist mein Glück, mein Himmelsgeschenk, mein herziger Schatz, mein Goldkind, mein Engel, mein Spielzeug und mein Zeitvertreib, das Licht meiner Tage und meiner Nächte. Komm, ich will ein Stückchen von deinen Händen aufessen. So, nun beiß ich dir ein Ohr ab. Gib dein Köpfchen her, daß ich dir die Haare küsse. Sei glücklich, mein Herzblatt, dann bin ich's auch.«
»Ah, meine Muhme«, sprach Sylvia, »Ihr redet in der Sprache der Liebe zu dem Kinde.«
»So ist die Liebe also ein Kind?«
»Ja, schon die Heiden haben sie als Kind dargestellt.« Und die beiden Schönen machten sich daran, mit dem Kleinen zu spielen, bis die Stunde des Nachtmahls kam, und fanden doch immer
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