Die dreizehnte Gabe: Der Dunkle Wald (Die 13. Gabe) (German Edition)
lassen, ihre Bluse
ausgezogen und sich zwei Stühle zurechtgezogen, um im Liegen und
mit arroganter Miene die Sonnenstrahlen zu genießen. Vermutlich
kannten die Menschen in Ayorweden keinen so knappen Bikinis wie
Lavinia ihn trug, denn der Kellner brauchte mehrere Anläufe, ihr
das Glas Hugo zu servieren, das sie bestellt hatte. Einige Gäste
hatten höchst ungehalten die Terrasse verlassen. Doch Lavinia
wusste, dass man nur so wichtig war, wie man sich gab.
»Hör
mal, beim letzten Glas habt ihr die Minze vergessen. Ich bestelle
jetzt noch ein Glas Hugo, und wenn der so schmeckt wie der vorher …«,
sagte sie zum nächsten Kellner. Sie musste nicht weitersprechen.
Bei ihrem Blick nickte der junge Mann eifrig und stolperte beim
Davonhasten über seine eigenen Füße.
Nach
einigen Minuten kam er zurückgerannt und servierte Lavinia ihren
Hugo, wie gewünscht mit Minze im Weinglas. Genervt verscheuchte
sie den nächsten aufdringlichen Spatz, der auf der Suche nach
Essensresten auf ihrem Tisch gelandet war. Schimpfend flog er davon.
Lavinia nahm ihr Handy von der Tischplatte und drückte auf dem
Bildschirm herum. Wie immer, wenn sie in Ayorweden war, blieb die
Oberfläche ihres Handys schwarz. Als sie ihr drittes Glas Hugo
geleert hatte, winkte sie gebieterisch den nervösen Kellner zu
sich und reichte ihm vier Gulden für ihr Getränk. »Den
Rest darfst du behalten, aber das nächste Mal möchte ich
nicht nach der Minze betteln, verstanden?«
Als
sie wenige Minuten später die Terrasse und das Restaurant
verließ, schienen einige junge Damen äußerst
erleichtert auszuatmen. Sie stolzierte mit ihrer Sonnenbrille auf der
Nase die breite Einkaufsstraße der Stadt entlang. Zu beiden
Seiten standen Menschen und Wesen hinter klapprig wirkenden
Marktständen, die den Einkaufswütigen ihre Waren anpriesen,
unter ihren Jacken vermutlich verbotene Gegenstände aufblitzen
ließen, den Vorbeigehenden schmeichelnde Worte zuwarfen oder
sich einfach nur heimtückisch umsahen, ehe sie mit ahnungslos
dreinblickenden Touristen in dunklen Gassen zwischen den eng
aneinandergeschobenen Häuserblocks verschwanden.
»Hallo
hübsche Dame! Würden sie gerne mehr über unsere
Petition gegen den bedauerlich schlechten Umgang mit dem armen Volk
der Pixies erfahren? Heute Abend um …«
»Sehen
sie mal, das ist ein echter Antidusstab, ich schwöre bei meinem
eigenem Leibe …«
»Kommen
sie näher, treten sie heran! Ganz frisch hergestellt! Cycone so
hochwertig, wie sie es noch nie gesehen haben! Mit diesen
Haushaltscycone schaffen sie nicht nur lästigen Staub aus feinen
Textilien, nein mit der passenden Formel schält und schneidet er
ihnen zusätzlich jedes Gemüse zurecht!«
Lavinia
langweilte sich, sie hasste Trempelmärkte und auch jede andere
Art von Märkten, die die untere Bevölkerungsschicht anzog.
Einmal im Monat, das hatte sie bereits herausgefunden, erlaubten die
Verantwortlichen der Stadt Händlern und Privatleuten für
kleines Geld, ihre Waren an den Straßenrändern der Stadt
anzubieten. Sie beeilte sich, durch die Schar der schnatternden
Geschöpfe und die aufregend bunte Vielfalt aus Farben und Formen
zu stolzieren. Eben hätte ihr fast ein grauhaariger alter Mann
freundlich lächelnd an die Schultern gefasst, um sie für
seine Keramikauslage zu begeistern. Mit vor Ekel verzogenem Mund
schlängelte sie sich von ihm weg und wäre beinahe einem
breiten Mann mit pelzigem Gesicht in die Arme gerannt. Es war
schwierig, sich durch die Massen zu schieben, ohne jemanden zu
berühren. Erschöpft kam sie am Stadttor an und wurde ohne
großes Prozedere hindurchgelassen. Sie neigte ihren Kopf zur
Seite, um unauffällig zu überprüfen, ob ihr die Wache
auch brav hinterhersah. Tatsächlich, sie hatte so sehr seinen
gierigen Blick auf sich gezogen, dass der Soldat nicht bemerkte, wie
Kinder Regenwürmer auf seinen Helm warfen und kichernd in der
Menge verschwanden.
Lavinia,
die nun endlich über den Kiesweg ging, war froh, dass sie die
Stadt verlassen hatte. Hier draußen kamen ihr nur wenig
Wanderer entgegen. Schon bald hatte sie die Grenze des Dunklen Waldes
überschritten und nur noch wenige Meter vor sich, um das Portal
zu benutzen. Noch einmal prüfte sie ihr Handy. Es funktionierte
noch nicht. Entnervt warf sie es zurück in ihre Handtasche. Wie
spät mochte es wohl sein? Mit einem Mal ließ sie ein
furchterregender Schrei zusammenfahren. Es war kein Kreischen, wie
sie es kannte, es war ein markerschütternder, schriller Ton,
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