Die Drenai-Saga 4 - Der Bronzefürst
vor, so daß sein Kopf langsam verschwand. Beltzer spürte, wie der Körper zusammensackte – er zählte gar nicht erst, sondern zerrte Chareos zurück. Das Gesicht des Schwertmeisters war weiß. Eis hatte sich auf seinem Schnurrbart gebildet, und seine Lippen waren blau vor Kälte. Beltzer legte ihn ins Gras, während Finn begann, die erfrorene Haut zu massieren. Nach einer Weile schlug Chareos die Augen auf und starrte Beltzer wütend an.
»Ich sagte, zähl bis fünf, nicht bis fünftausend.«
»Du warst nur ein paar Herzschläge lang dort drin«, sagte Finn. »Was hast du gesehen?«
»Herzschläge? Auf der anderen Seite ist mindestens eine Stunde vergangen. Ich habe nichts gesehen, außer Schnee und Eisstürmen. Keine Spur von Leben. Und am Himmel standen drei Monde.« Er setzte sich auf.
»Was können wir tun?« fragte Beltzer.
»Mach ein Feuer. Ich denke darüber nach. Aber sag mir alles über Okas und seinen Stamm. Alles, woran du dich erinnern kannst.
Alles.«
Beltzer kauerte sich neben Chareos ins Gras. »Es ist nicht viel, Schwertmeister. Ich hatte nie ein gutes Gedächtnis für Einzelheiten. Sie nennen sich selbst das Volk des Traums der Welt, aber ich weiß nicht, was das bedeutet. Okas hat versucht, es mir zu erklären, aber ich habe es nicht mitbekommen – die Wörter umschwirrten meinen Kopf wie Schneeflocken. Ich glaube, dieses Volk betrachtet die Welt als Lebewesen, wie einen gewaltigen Gott. Aber sie beten eine einäugige Göttin an, die Jägerin, und der Mond ist für sie ihr blindes Auge. Die Sonne ist ihr gutes Auge. Das ist alles.«
Finn zündete das Feuer an und gesellte sich zu den beiden Männern. »Ich habe sie gesehen«, sagte er. »In den Bergen. Sie bewegen sich nachts – ich glaube, sie jagen.«
»Gut. Warten wir auf Mondschein«, entschied Chareos. »Dann versuchen wir es noch einmal.« Die Stunden vergingen quälend langsam. Finn bereitete eine Mahlzeit aus den letzten ausgesuchten Stücken des Rehs, das sie am Vorabend erlegt hatten. Beltzer wickelte sich in seine Decken und schlief, die Hand an der Axt. Kiall schlenderte vom Feuer zum Kamm eines nahe gelegenen Hügels. Dort ließ er sich nieder, dachte an Ravenna und stellte sich die überwältigende Freude vor, die sie empfinden würde, wenn er zu ihr kam. Er schauderte. Eine plötzliche Niedergeschlagenheit traf ihn wie ein Schlag. Würde er jemals zu ihr reiten? Und wenn – würde sie einfach nur lachen, wie sie ihn schon einmal ausgelacht hatte? Würde sie auf ihren neuen Ehemann zeigen und sagen: ›Er ist mein Mann. Er ist stark, kein Träumer wie du‹?
Kiall hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Finn kam auf ihn zu. »Möchtest du allein sein?« fragte Finn.
»Nein.«
Finn setzte sich und blickte über das zerklüftete Land. »Dies ist ein schönes Fleckchen Erde«, meinte er, »und so wird es auch bleiben, bis die Menschen es entdecken und ihre Städte und Dörfer bauen. Ich könnte hier bis zu meinem Tod leben – und es nie bedauern.«
»Maggrig hat mir erzählt, daß du das Stadtleben haßt«, sagte Kiall.
Der Jäger nickte.
»Mir geht es nicht um die endlosen Steine und Mauern – es sind die Menschen. Nach Bel-Azar wurden wir von Stadt zu Stadt gezerrt, damit die Menge uns begaffen konnte. Man hätte glauben können, wir wären Götter. Wir alle haßten es – außer Beltzer. Er fühlte sich wie im Himmel. Chareos war der erste, der sagte: Schluß. Eines Morgens ritt er einfach davon.«
»Er hatte ein trauriges Leben gehabt, wie ich gehört habe«, sagte Kiall.
»Traurig? Inwiefern?«
»Seine Frau. Beltzer hat mir davon erzählt.«
»Beltzer hat ein großes Maul, und die Privatangelegenheiten eines Mannes sollten privat bleiben. Ich sah sie zuletzt vor drei Jahren in Neu-Gulgothir. Sie ist endlich glücklich.«
»Sie ist tot«, widersprach Kiall. »Sie wurde Straßenmädchen und hat sich umgebracht.«
Finn schüttelte den Kopf. »Ja, Beltzer hat mir das auch erzählt, aber es stimmt nicht. Sie war eine Hure, aber sie heiratete einen Kaufmann und gebar ihm drei Söhne. Soweit ich weiß, sind sie immer noch zusammen. Sie erzählte mir, daß sie Beltzer getroffen hatte – das war der Tiefpunkt ihres Lebens. Ich kann’s mir vorstellen. Jedesmal, wenn ich Beltzer sehe, geht es mir genauso. Nein, Beltzer hörte von einer Hure, die sich ertränkt hatte, und der Rest war Wunschdenken. Sie war glücklich, als ich sie sah – zum erstenmal in ihrem Leben. Ich habe mich für sie
Weitere Kostenlose Bücher