Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
verstehen, müssen wir zuerst die Bedürfnisse und Wünsche unserer Vorfahren verstehen.«
»Das sehe ich nicht so«, antwortete sie. »Die Wünsche unserer Vorfahren sind offensichtlich – deswegen sind wir ja hier. Und diese Wünsche ändern sich nicht – deswegen haben wir Kinder.«
»Glaubst du, die Geschichte kann uns nichts lehren?« fragte Ekodas.
»Die Geschichte schon«, gab sie zu, »aber das hier ist nicht Geschichte, das sind lediglich Schriftstücke. Bist du hier der Anführer?« fragte sie und wandte sich an Dardalion.
»Ich bin der Abt. Die Priester, die du gesehen hast, sind meine Schüler.«
»Er kämpft gut«, sagte sie mit einem Lächeln und deutete auf Ekodas. »Er sollte nicht hier unter Betbrüdern sein.«
»Du benutzt das Wort als Beleidigung«, klagte Ekodas und errötete.
»Wenn du dich dadurch beleidigt fühlst, dann muß es so sein«, sagte sie.
Dardalion kicherte und ging um sein Schreibpult herum. »Du bist willkommen hier, Shia, Tochter von Nosta Vren. Morgen früh werden wir dich zu deinem Bruder Belash führen.«
Ihre dunklen Augen funkelten, und sie lachte. »Deine Kräfte erstaunen mich nicht, Silberhaar. Ich wußte, daß du ein Mystiker bist.«
»Woher?« wollte Ekodas wissen.
Dardalion ging zu dem verblüfften Priester und legte dem jungen Mann eine Hand auf den Arm.
»Woher sonst sollte ich von dem … erschütternden … Angriff wissen?« fragte Dardalion. »Du hast einen scharfen Verstand, Shia. Und du bist eine tapfere Frau.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich brauche dich nicht, um mir zu sagen, was ich bin. Aber es freut mich, das Kompliment zu hören. Ich möchte jetzt schlafen. Der kämpfende Betbruder hat mir ein Bett angeboten.«
»Ekodas, bring unseren Gast in den Westflügel. Ich habe ein Feuer in dem Schlafraum anzünden lassen, der nach Süden liegt.« Er wandte sich wieder an Shia und verbeugte sich noch einmal. »Mögen deine Träume angenehm sein, junge Dame.«
»Das werden sie sein … oder auch nicht«, antwortete sie. In ihren Augen stand noch immer leiser Spott. »Darf dein Mann mit mir schlafen?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete Dardalion. »Wir leben hier im Zölibat.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum spielen Männer solche Spiele?« fragte sie. »Zuwenig Liebesspiel macht Bauch und Rücken krank. Und schlimme Kopfschmerzen.«
»Aber dafür«, sagte Dardalion, der nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, »befreit es den spirituellen Geist und führt ihn in Höhen, die man in irdischen Freuden selten findet.«
»Weißt du das aus Erfahrung oder nur aus deinen Schriften?« entgegnete sie.
»Nur aus den Schriften«, gab er zu. »Aber der Glaube ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens hier. Schlaf gut.«
Ekodas, der tiefrot geworden war, führte die Nadirfrau durch den Westkorridor. Sein Unbehagen wurde, durch das Lachen des Abts, das ihnen nachhallte, noch verstärkt.
Der Raum war klein, aber ein helles Feuer brannte im Kamin, und frische Decken lagen auf dem schmalen Bett.
»Ich hoffe, du wirst es hier bequem haben«, sagte er steif. »Ich wecke dich morgen früh mit einem leichten Frühstück – Brot, Käse und Saft von Sommeräpfeln.«
»Träumst du, Betbruder?«
»Ja. Oft.«
»Träum von mir«, sagte sie.
10
Sie lagerten in einer geschützten Senke im Wald. Ein kleines Feuer flackerte in einem Kreis aus Steinen. Senta, Angel und Belash schliefen, Waylander hatte die dritte Wache. Er saß auf dem Hügel, den Rücken an einen Baum gelehnt. Seine schwarze Kleidung ließ ihn mit den Schatten der Nacht verschmelzen. Neben ihm lag der Hund, den er Scar getauft hatte.
Miriel lag in ihren Umhang gewickelt und mit dem Rücken zum Feuer. Ihre Schultern waren warm, ihre Füße kalt. Der Herbst verging rasch, und die Luft roch nach Schnee. Sie konnte nicht schlafen. Der Ritt von der Hütte hierher war fast schweigend verlaufen, doch Miriel hatte sich in die Gedanken der Reiter eingeschaltet. Belash dachte an zu Hause und an Rache, und jedesmal wenn seine Gedanken sich Waylander zuwandten, stellte er sich ein schimmerndes Messer vor. Angel war verwirrt. Er wollte nicht nach Norden reisen, aber er wollte sie auch nicht verlassen. Seine Gedanken an Miriel waren ebenso widersprüchlich. Er hatte sie gern, mal väterlich und mal erregt. Senta litt nicht unter Verwirrung. Seine Gedanken waren voller erotischer Bilder, die das junge Mädchen aus den Bergen zugleich erregten und ängstigten.
Waylander ließ sie in Ruhe, aus
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