Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
»Ich weiß nicht … vielleicht. Fahr weiter, bring die Sachen hin.«
Shurpac kletterte zurück auf seinen Sitz, nahm die Peitsche und ließ sie leicht auf den Rücken der vier Maultiere klatschen. Sie schlurften vorwärts, und der Wagen rollte weiter. Michanek schlenderte durch das Tor und zählte die Wagen. Es waren fünfzig, alle gefüllt mit Mehl und Trockenobst, Haferflocken, Getreide und Mais. Gorben hatte zweihundert Wagen versprochen. Wirst du dein Wort halten? fragte sich Michanek.
Wie zur Antwort entfernte sich ein einzelner Reiter aus dem feindlichen Lager. Das Pferd war ein weißer Hengst, fast siebzehn Hand hoch, ein schönes Tier, kraftvoll und schnell. Es kam auf Michanek zu, der mit verschränkten Armen stehenblieb. Im letzten Moment riß der Reiter an den Zügeln. Das Pferd stieg, und der Reiter sprang ab. Michanek verbeugte sich, als er den ventrischen Kaiser erkannte.
»Wie geht es Bodasen?« fragte Michanek.
»Er lebt. Ich danke dir, daß du ihm den Todesstoß erspart hast. Er bedeutet mir viel.«
»Er ist ein guter Mann.«
»Das bist du auch«, sagte Gorben. »Zu gut, um hier für einen Herrscher zu sterben, der dich verlassen hat.«
Michanek lachte. »Als ich meinen Treueeid schwor, war meines Wissens keine Klausel darin, die mir gestattet, den Eid zu brechen. Hast du in deinen Lehnseiden eine solche Klausel?«
Gorben lächelte. »Nein. Mein Volk schwört, mir bis in den Tod zu dienen.«
Michanek breitete die Arme aus. »Nun, Majestät, was erwartest du dann von diesem armen Naashaniter hier?«
Gorbens Lächeln verschwand, und er trat dicht an den anderen heran. »Ich hatte gehofft, du würdest kapitulieren, Michanek. Ich wünsche deinen Tod nicht – ich schulde dir ein Leben. Du mußt doch einsehen, daß ihr selbst mit diesen Lebensmitteln nicht mehr lange aushalten könnt. Warum muß ich meine Unsterblichen schicken, damit ihr alle in Stücke gehauen werdet? Warum marschiert ihr nicht ordentlich hinaus und kehrt nach Hause zurück? Ihr habt freien Abzug. Du hast mein Wort.«
»Das würde meinen Befehlen zuwiderlaufen, Majestät.«
»Darf ich fragen, wie sie lauten?«
»Auszuhalten, bis ich einen anderslautenden Befehl erhalte.«
»Dein Herrscher ist auf der Flucht. Ich habe seinen Gepäckzug gefangengenommen, einschließlich seiner drei Frauen und seiner Töchter. Im Moment sitzt einer seiner Boten in meinem Zelt und verhandelt um ihre sichere Rückkehr. Aber er bittet um nichts für dich, seinen treuesten Soldaten. Findest du das nicht empörend?«
»Doch, natürlich«, antwortete Michanek, »aber es ändert nichts.«
Gorben schüttelte den Kopf und ging zu seinem Hengst. Er packte Zügel und Sattelknauf und schwang sich auf den Rücken des Tieres. »Du bist ein guter Mann, Michanek. Ich wünschte, du hättest mir dienen können.«
»Und du, Majestät, bist ein begnadeter General. Es war ein Vergnügen, dich so lange hinzuhalten. Richte Bodasen bitte meine Grüße aus – und wenn du alles auf ein weiteres Duell setzen möchtest, stelle ich mich jedem, den du schickst.«
»Wenn mein Meisterkämpfer hier wäre, würde ich dich darauf festnageln«, sagte Gorben mit einem breiten Grinsen. »Ich würde gern sehen, wie du gegen Druss und seine Axt bestehst. Lebwohl, Michanek. Mögen die Götter dir ein herrliches Nachleben gewähren.«
Der ventrische Kaiser trieb sein Pferd an und galoppierte zurück in sein Lager.
Pahtai saß im Garten, als die erste Vision sie überfiel. Sie beobachtete eine Biene, die Einlaß in eine purpurne Blüte begehrte, als sie plötzlich ein Bild von dem Mann mit der Axt sah – nur daß er weder eine Axt noch einen Bart hatte. Er saß auf einem Berg und blickte auf ein kleines Dorf mit einer halbfertigen Palisade hinunter. So schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Vision wieder. Sie war beunruhigt, doch bei den ständigen Kämpfen auf den Mauern von Resha und ihrer Angst um Michaneks Sicherheit wischte sie ihre Sorgen beiseite. Doch die zweite Vision war kraftvoller als die erste. Sie sah ein Schiff und darauf einen großen, dürren Mann. Ein Name drang durch die Schleier ihres Geistes: Kabuchek.
Er war einmal ihr Besitzer gewesen, vor langer Zeit, in der sie laut Pudri ein seltenes Talent besessen hatte, die Gabe, die Zukunft zu sehen und die Vergangenheit zu lesen. Diese Gabe war jetzt fort, und sie bedauerte es nicht. Mitten in einem schrecklichen Bürgerkrieg war es vielleicht ein Segen, nicht zu wissen, welche Gefahren die Zukunft
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