Die dritte Ebene
Stille. Brian beschlich ein eigenartiges Gefühl. Nur die Stimmen des Urwalds drangen an sein Ohr. Das Vogelgezwitscher und hier und da der Schrei eines Brüllaffen. Die Menschen schwiegen. Sogar die Kinder standen reglos unter den Erwachsenen und musterten die Fremden mit sorgenvoller Miene.
»Warum ist es hier so ruhig?«, flüsterte Brian.
Juan räusperte sich. »Sie glauben, dass der Kampf mit dem Wolkengott den Geist der Schamanin verwirrt hat und er nun irgendwo über dem Dorf umherirrt und nach seinem Körper sucht. Deswegen schweigen sie. Sie wollen den Geist auf seiner Suche nicht ablenken.«
Brian nickte.
Nach einer Weile erschien der Älteste in der Türöffnung und gab Juan und Brian ein Zeichen. Zögerlich betraten sie die Stufen, die hinauf zum Eingang führten. Yakuna blieb zurück. Brians Herzschlag beschleunigte sich, als er die Hütte betrat. Ihn schauderte, und trotz der feuchten Hitze überlief ihn eine Gänsehaut. Auf dem Boden brannten unzählige Kerzen.
In der Mitte der riesigen Halle lag auf einem Bett aus mehreren Decken der reglose Körper der Frau. Brian trat näher. Frauen des Stammes umgaben das Lager der Schamanin. Mit einem Tuch benetzte eine der Indiofrauen Stirn und Lippen der Schlafenden. Als Brian einen Schritt näher trat, sah er ihre offenen Augen, die reglos und stumpf durch ihn hindurchblickten. Der Brustkorb der Frau hob und senkte sich. Sie lebte.
Der Alte flüsterte Juan ein paar Worte zu. »Sie können ruhig näher kommen, Dr. Saint-Claire«, übersetzte er.
Brian kam der Aufforderung nach und kniete sich zur Linken der Frau nieder.
»Darf ich sie untersuchen?«, fragte er in gedämpftem Ton.
Juan übersetzte, und der Alte nickte. Brian hob das Ohr an den Mund der Schlafenden. Die ausgestoßene Atemluft strich ihm über die Wange. Er fühlte ihren Puls. Er ging langsam, aber regelmäßig. Als er ihre Augen betrachtete, bemerkte er das leichte, fast unmerkliche Flackern ihrer Pupillen.
»Ich habe so etwas zwar noch nie gesehen«, sagte Brian im Flüsterton, »aber ich glaube, sie ist dem Leben so fern wie dem Tod. Offenbar ist sie durch den Blitz in eine Art Wachkoma gefallen. Ich fürchte, sie wird sterben, wenn wir sie nicht in eine Klinik bringen. Sie muss mit Flüssigkeit und Nahrung versorgt werden, sonst wird sie in ein paar Tagen dehydrieren.«
»Keine Chance, Doktor«, erwiderte Juan. »Sie gehört in dieses Dorf.«
»Dann stirbt sie!«
»Sie verstehen die Menschen hier draußen nicht«, erwiderte Juan leise. »Sie hat das Dorf vor großem Unheil beschützt. Die Dorfbewohner spüren noch immer ihre Anwesenheit. Ihr Geist wacht über das Dorf. Wenn sie fortgeht, dann sind die Menschen hier schutzlos allen Gefahren des Dschungels ausgeliefert und ihr Geist wird ihren Körper nie mehr wiederfinden.«
»Das ist doch purer Aberglaube.«
»Für Sie ist es Aberglaube. Es ist der Glaube der Warao, und das allein zählt. Sie werden Ihnen niemals gestatten, die Frau von hier wegzubringen.«
»Hier kann niemand etwas für sie tun«, sagte Brian.
Juan wandte sich dem Dorfältesten zu und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Schließlich nickte der Alte und begleitete die beiden Besucher wieder aus der Hütte hinaus. Zusammen mit Yakuna folgten sie dem Alten, der sie zu einem kunstvoll gebauten Haus führte, über dessen Giebel der prächtig geschmückte Kopf einer Raubkatze prangte. An der Feuerstelle neben dem Eingang ließen sie sich nieder. Der Alte wies ein paar umherstehende Frauen an, Speisen zuzubereiten. Inzwischen erzählte er Juan, der wiederum dessen Worte für Brian übersetzte, vom Alltag der Warao, von der Jagd und von dem Leben, das sein Volk hier draußen führte. Hin und wieder gebe es blutige Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, welche die Fischgründe der Warao plünderten oder die Reviere des Stammes nach Beute durchstreiften. Die Schamanin habe das Dorf immer gut beschützt und die Kranken oder Verletzten geheilt. Sie besitze die Gabe des zweiten Gesichts und könne alle Geister bändigen. Nur wenige aus seiner Sippe seien in letzter Zeit gestorben. Auch im Kampf habe es keine Verluste mehr gegeben, seit Ka-Yanoui mit den Geistern spreche. Während ihrer Gespräche mit ihnen sei es vorgekommen, dass die Geister sie in die Höhe hoben. Um seine Worte mit einer Geste zu unterstreichen, fuhr der Älteste mit der flachen Hand im Abstand von etwa einem halben Meter über den Boden. Daraufhin erhob sich der Indio und verschwand in der
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