Die dritte Ebene
Schüsseln geleert waren, ließ sich Ka-Yanoui zurücksinken und schaute in den wolkenlosen Himmel. Die Sterne blinkten am Firmament, und über die Gesichter der Anwesenden tanzten die Schatten der Feuer. Die Schamanin richtete sich wieder auf.
»Als der Große Geist die Erde schuf«, erzählte sie, »war es ein kalter und verlorener Stein in der Weite der Finsternis, das war die erste Ebene seines Handelns. Er schuf das Feuer, damit Licht und Wärme die Erde erfülle und jeden Winkel erreiche. Das war die zweite Ebene. Anschließend schuf er die beiden unzertrennlichen Brüder, den Wind und das Wasser, damit das Leben auf dem Stein gedeihe. Das war die dritte Ebene. Schließlich beseelte er alle Ebenen durch seine Aura und blies ihnen den Hauch der Ewigkeit ein. Und aus dem Schoß der Erde wuchs die Natur. Er bestimmte Geister, die über seine Schöpfung wachten, und sein Atem verband alle Elemente zu einem Strom des Seins. Selbst der Stein, der nutzlos am Boden liegt, ist mit seinem Odem durchsetzt. Nichts geschieht, ohne dass es sein Wille ist, und nichts vergeht ohne Grund. Am Ende dieses Tages schuf er die Warao, damit sie wuchsen und gediehen und ihm ein ehernes Andenken bewahrten. Das ist die Geschichte unseres Volkes, das sich einmal über den großen Strom bis hinunter in die hohen Berge erstreckte.«
Die anwesenden Indios murmelten ein paar Worte im Gleichklang, wie Formeln eines Gebets.
»Auch andere Menschen gebar Mutter Natur unter Schmerzen, doch ihre Kinder waren undankbar, sie entfernten sich von ihr und verschmähten sie. Die Menschen verleugneten ihren Ursprung. Sie wollten selbst wie der Große Geist sein. Sie beobachteten und studierten, aber nicht um zu verstehen, sondern um zu verändern. Der Wächter der Ebenen schaute tatenlos zu. Und so fanden die Abtrünnigen den Weg zum Feuer. Sie fanden es in den kleinen Steinen des Lichts, die sie in fliegende Hüllen steckten. Doch die Steine dienten ihnen nicht, um sich daran zu wärmen, sondern um zu töten. Das erzürnte den Großen Geist, und er verstieß den Wächter und die bösen Menschen mit ihm. Er nahm ihnen die Augen, um seine wahre Größe nicht mehr zu sehen, er nahm ihnen die Ohren, damit sie seine Stimme nicht mehr länger hören könnten, und er nahm ihnen ihre Seelen, damit sie von nun an nichts mehr als körperliche Hüllen wären, die nach ihrem Tod sinnlos vergingen, ohne in sein großes Reich schauen zu dürfen. Den schlafenden Wächter aber verstieß er hinab in den Mittelpunkt der Erde, wo er von flüssigem Feuer umgeben für alle Ewigkeit leiden soll. Der Hunger dieser unseligen Kreaturen aber ist unstillbar. Sie wollen auch die dritte Ebene für sich besitzen, doch der Wächter des Wassers und der Winde ist auf der Hut. Der Große Geist hat ihn ermahnt. Und so zürnt der Wächter den Ungläubigen und straft sie mit seinem todbringenden Atem.«
»Das ist ja nett anzuhören«, flüsterte Suzannah, »aber diese mystische Schöpfungsgeschichte bringt uns nicht viel weiter.«
»Warte ab«, sagte Brian.
»Ich habe die Ungläubigen gesehen«, fuhr die Schamanin fort. »Sie tragen alle gleiche Kleider, manche haben weiße Mäntel darüber. Sie wohnen in einem Berg, aus dessen Spitze stählerne Stacheln ragen, die das Böse in den Himmel schicken. Nur ihr könnt sie stoppen. Ein Riese wird euch dabei helfen.«
Suzannah schaute Brian fragend an. »Was meint sie damit?«
»Sie leben unter dem Berg und zeigen sich nicht. Sie leben im Geheimen. Doch die Schreie der Menschen, die sie quälen, bleiben mir nicht verborgen.«
»Und wo ist dieser Ort?«, fragte Suzannah, die ihre Ungeduld nicht mehr im Zaum halten konnte.
»Weiße Ebenen, weiß wie die Unschuld. Hitze, es ist das Land des Feuers«, sagte die Schamanin und zeigte in den Himmel.
Brian griff nach seinem Rucksack und holte die Kopie einer Landkarte hervor. Die Karte zeigte den nordamerikanischen Kontinent sowie die Nordküste Südamerikas. Wayne hatte darauf das Dreieck der Stürme eingezeichnet.
»Der Berg ist bewaldet«, fuhr die Schamanin fort. »Es ist der Mittelpunkt. Sie bringen Angst über die Erde und fordern damit den Wächter heraus. Ihr müsst sie aufhalten. Ihr seid dazu bestimmt. Das Wasser und der Wind besitzen ebenso viel Macht wie das Feuer.«
Brian schaute auf die Karte.
»Männer mit gleicher Kleidung«, murmelte er. »Das könnten Soldaten oder so etwas sein.«
Suzannah blickte grübelnd in das Feuer. »Ich kenne eine Gegend, wo es eine weiße Wüste
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