Die dritte Ebene
Suzannah.
»Eine interessante Theorie«, meldete sich Brandon zu Wort. »Vielleicht sollten wir diese Idee verfolgen. Eine posttraumatische Störung, die sich zu einer Art Psychose verselbstständigte. Ergo eine Handlung, die nie stattgefunden hat und auch nicht mehr stattfinden wird, denn das Shuttle ist sicher gelandet, hält sie in einer Todesillusion gefangen, die den beiden panische Angst einjagt. Wie sollte eine mögliche Therapie Ihrer Meinung nach aussehen, werte Suzannah?«
»Versuchen wir es einmal mit Konfrontation.«
»Konfrontation?«
»Wir stellen die Landung des Shuttles noch einmal nach«, erklärte Shane. »Wir stecken sie in ihre Raumanzüge und stellen den Ablauf zum Zeitpunkt des Sturms noch einmal nach. Aber diesmal mit einem positiven Ablaufschema. Sie landen und werden aus dem Shuttle geführt. Damit geben wir ihnen eine zweite Realität. Vielleicht löst das die Blockade in ihrem Hirn.«
»Haben Sie mit derartigen Experimenten Erfahrung?«, fragte Buchhorn.
»Seit einem Jahr beschäftige ich mich mit einer neuartigen Konfrontationsmethode unter Einbindung der Hypnose als neue Methode zur Therapierung von schwerwiegenden Schlafstörungen«, erläuterte Suzannah. »Unsere Ergebnisse können sich sehen lassen. Die Quote liegt bei über fünfundsiebzig Prozent.«
»Das also hat Sie in letzter Zeit von unserem Campus ferngehalten«, scherzte Brandon. »Ich dachte schon, das Essen in der Mensa wäre nicht mehr nach Ihrem Geschmack. Aber alle Achtung, wenn man Ihnen so zuhört, dann erscheint diese Methode durchaus praktikabel. Man tauscht quasi nur den Film im Kopf aus. Aus dem Drama wird ein Lustspiel, und schon ist der Patient geheilt.«
»Leider ist es nicht ganz so einfach«, warf Suzannah ein. »Das Gehirn lässt sich nicht so ohne Weiteres überlisten. Wie wir alle wissen, vergleicht die Amygdala unter Zuhilfenahme des präfrontalen Kortex und des Hypocampus das eingegebene Reizmuster einer Situation mit den angeborenen Schlüsselmerkmalen sowie dem Erfahrungsschatz. Wir müssen also dafür sorgen, dass die neue, positive Geschichte die alte, angsterregende überlagert und dass sie überdies von den anderen Teilen des Gehirns verifiziert wird.«
»Und wie bewerkstelligen wir das?«, fragte Brandon.
»Wir haben zwei Methoden, die parallel angewandt werden. Wir bedienen uns der Hypnose und setzen Medikamente ein, die eine Bewusstseinserweiterung erzielen.«
»Natriumpentathol?«, fragte Buchhorn.
Suzannah Shane nickte.
»Und was meint unser esoterisch veranlagter Freund dazu?«, fragte Brandon spöttisch und wandte sich Brian zu.
Brian hatte während der Diskussion geschwiegen und sich weiter in die Protokolle und Gesprächsaufzeichnungen eingelesen. Vor allem die Niederschriften der Traumprotokolle hatten ihn erschüttert. Die beiden Astronauten berichteten zweifellos von einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe. In ihren Visionen sahen sie Stürme über die Erde ziehen, die große Opfer unter der Menschheit forderten. Erst am gestrigen Abend hatte ein tropischer Wirbelsturm den Süden von Tallahassee in Florida zerstört und – so hieß es in den Nachrichten – mindestens eintausend Menschen getötet. Ebenso viele Menschen wurden noch vermisst. Alles nur ein Zufall? Er dachte an die Worte von Pater Francesco, der ihm von den sonderbaren Visionen des alten Kirchendieners erzählt hatte.
»Ich möchte zuerst mit dem Piloten reden«, antwortete er und überging die provozierende Anspielung von Thomas Brandon. Er wusste, dass sein Kollege und er auf völlig unterschiedlichen Wellenlängen lagen. Außerdem hatte er es Brandon als Leiter der Psychologischen Fakultät der Bradley-Universität von Chicago zu verdanken, dass er damals seine Stelle als junger Dozent verlor. Brandon hatte die anderen Professoren gegen ihn aufgehetzt, mit der Begründung, dass Brian Saint-Claire keine klare Trennungslinie zwischen der klassischen Schulpsychologie und der Erforschung parapsychologischer Phänomene setze.
»Ein Dozent, der Wissenschaft von Hysterie und Aberglaube nicht zu unterscheiden weiß, hat in der ehrenwerten Gesellschaft ernsthafter Psychologen und Analytiker nichts verloren«, hatte Brandon damals erklärt. Mittlerweile waren beinahe sechs Jahre vergangen. Brian hegte keinen Groll mehr gegen Brandon. Im Gegenteil, eigentlich musste er dem groß gewachsenen und kantigen Mann, der in einem Anzug steckte, der mindestens eine Nummer zu groß für ihn war, sogar dankbar sein. Er
Weitere Kostenlose Bücher