Die dritte Jungfrau
Er benutzte seinen Kamin zum erstenmal, und die Flamme loderte hoch und hell, ohne das Zimmer zu verräuchern. Genauso sollte er auch die ›Frage ohne Antwort‹ über den König David verbrennen, die den Kopf seines Mitarbeiters verrußte, indem sie den Zweifel in alle seine Spalten trieb. Kaum war er eingetreten, setzte Danglard sich ans Feuer zu Adamsberg, der ihm, Scheit für Scheit, seine Angst zu Asche brannte. Und zugleich damit ließ Adamsberg, ohne daß er Danglard etwas davon sagte, auch die letzten Brocken seiner eigenen Wut gegen Veyrenc verglühen. Die beiden Rambos aus Caldhez in Aktion zu erleben und Rolands brutale Stimme zu hören hatte die Vergangenheit heraufbeschworen und den barbarischen Überfall auf der Hochwiese in all seiner Grausamkeit wieder lebendig werden lassen. Ungeheuer gegenwärtig lief die Szene noch einmal vor seinem inneren Auge ab, in all ihren Einzelheiten, grauenhaft und beklemmend. Das Kind am Boden, die Schultern niedergedrückt von Fernands Händen, Roland, wie er sich mit der Glasscherbe näherte, rühr dich bloß nicht, du Arschloch. Das Entsetzen des kleinen Veyrenc, sein blutüberströmtes Haar, der Hieb in den Bauch, sein unsagbarer Schmerz. Und er selbst, der junge Adamsberg, wie er reglos unter seinem Baum stand. Was würde er darum geben, wenn er das nie erlebt hätte, wenn diese unvollendete Erinnerung endlich aufhörte, ihn auch nach vierunddreißig Jahren noch an einer bestimmten Stelle zu jucken. Daß doch auch Veyrencs fortdauernde Qual in einer Flamme verlöschen könnte! Und wenn Camille, dachte er plötzlich, ihm in ihren Armen ein wenig Erlösung verschaffen konnte, dann sollte sie es tun. Unter der Bedingung, daß dieser verfluchte Dreckskerl von Béarner ihm nicht sein Stück Land wegnähme. Adamsberg warf noch ein Holzscheit in die Flammen und lächelte leise. Das Stück Land, das er mit Camille teilte, lag außer Reichweite, kein Grund zur Aufregung.
Kurz vor Mitternacht leerte Danglard sein letztes Glas, beruhigt über den König David und besänftigt durch die Heiterkeit, die Adamsberg verströmte.
»Dieses Feuer brennt wirklich gut«, sagte er.
»Ja. Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Haus haben wollte. Erinnern Sie sich noch an den Kamin bei der alten Clémentine? {6} Ich habe nächtelang davor gesessen. Ich zündete das Ende eines Zweiges an und malte glühende Kreise in die Dunkelheit. Ungefähr so.«
Adamsberg schaltete die Deckenlampe aus, tauchte einen dünnen Stock in die Flammen und zeichnete Achten und Kreise ins Halbdunkel.
»Das ist hübsch«, sagte Danglard.
»Ja. Hübsch und faszinierend.«
Adamsberg reichte den Zweig seinem Mitarbeiter, stemmte seine Füße gegen den Kaminsockel und kippte seinen Stuhl nach hinten an.
»Ich werde die dritte Jungfrau aufgeben, Danglard. Niemand glaubt an sie, niemand will was von ihr hören. Und ich selbst habe auch nicht die leiseste Ahnung, wie man diese Frau finden könnte. Ich überlasse sie ihrem Schicksal und ihrem Kaffee.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Danglard und blies vorsichtig auf die Spitze des Stocks, um sie am Glühen zu halten.
»Nein?«
»Nein. Ich glaube, Sie werden sie nicht aufgeben. Und ich auch nicht. Ich glaube, Sie werden weiter nach ihr suchen. Ob es den anderen gefällt oder nicht.«
»Glauben Sie, daß es sie gibt? Glauben Sie, sie ist in Gefahr?«
Danglard malte ein paar Achten in die Luft.
»Die These mit dem De reliquis ist so vage wie eine Vision«, sagte er. »Sie hängt an einem seidenen Faden, aber diesen Faden gibt es. Und er verbindet alle, selbst die abwegigsten Bestandteile dieser Geschichte. Er verbindet sogar die Schuhsohlengeschichte mit der Dissoziation.«
»Wie das?« fragte Adamsberg und übernahm wieder den Stock.
»Bei allen mittelalterlichen Beschwörungszeremonien malte man einen Kreis auf den Boden. In seiner Mitte tanzte die Frau, die den Teufel anrief. Auf diese Weise, mit Hilfe des Kreises, trennte man symbolisch ein Stück Boden von der übrigen Erde ab. Auch unsere Mörderin agiert auf solch einem herausgehobenen Stück Boden, das nur ihr gehört, agiert an ihrem Faden, in ihrem Kreis.«
»Retancourt ist mir bei diesem Faden nicht gefolgt«, sagte Adamsberg verdrossen.
»Ich weiß nicht, wo Retancourt ist«, sagte Danglard. »Sie ist heute nicht in der Brigade erschienen. Und bei ihr zu Hause geht immer noch keiner ans Telefon.«
»Haben Sie mal bei ihren Brüdern angerufen?« fragte Adamsberg stirnrunzelnd.
»Bei ihren
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