Die dritte Jungfrau
Brüdern, ihren Eltern, bei zwei Freundinnen, die mir bekannt sind. Niemand hat sie gesehen. Sie hat nichts davon gesagt, daß sie irgendwohin gehen würde. Keiner in der Brigade wußte was.«
»Womit war sie denn gerade befaßt?«
»Sie sollte sich zusammen mit Mordent und Gardon um den Mordfall in Miromesnil kümmern.«
»Haben Sie ihren Anrufbeantworter abgehört?«
»Ja, keinerlei besondere Verabredung.«
»Fehlt ein Wagen?«
»Nein.«
Adamsberg warf den Zweig ins Feuer und stand auf. Die Arme verschränkt, lief er ein paar Schritte durchs Zimmer.
»Geben Sie Alarm, Capitaine.«
43
Die Nachricht vom Verschwinden des Lieutenant Violette Retancourt war in die Brigade eingeschlagen wie ein abstürzendes Flugzeug und hatte jegliche Anwandlung von Rebellion in Vergessenheit geraten lassen. In der dumpfen Panik, die sich auszubreiten begann, begriff jeder, daß durch den fehlenden blonden Lieutenant das Gebäude eines seiner zentralen Pfeiler beraubt war. Die Verstörtheit der Katze, die, zur Kugel zusammengerollt, zwischen Wand und Kopiergerät hockte, gab ein ungefähres Bild von der seelischen Verfassung aller, nur daß die Menschen weiterhin ihre Nachforschungen betrieben, die sie mit Personenbeschreibungen Retancourts nun auf sämtliche Krankenhäuser und Polizeistationen des Landes ausweiteten.
Commandant Danglard, gerade erst von seiner moralischen Krise, genannt »König-David-Krise«, genesen, aber bereits von einem erneuten Anfall von Pessimismus heimgesucht, hatte sich ohne jede Scham in den Keller geflüchtet, wo er gegenüber dem hohen Heizkessel in einem Plastikstuhl saß und vor aller Augen Weißwein kippte. Am anderen Ende des Gebäudes wiederum war Estalère in den Raum hinaufgestiegen, in dem der Getränkeautomat stand, und hatte sich, ähnlich der Kugel, auf den Schaumstoffblöcken von Lieutenant Mercadet zusammengerollt.
Die schüchterne junge Rezeptionistin Bettina, die seit kurzem in der Telefonzentrale arbeitete, lief durch den nahezu in Trauer versunkenen Konzilsaal, in dem nur noch das Klicken der Telefone zu hören war sowie wenige, immer gleiche Worte, ja, nein, bitte rufen Sie uns an. In einem Winkel sprachen Mordent und Justin leise miteinander. Bettina klopfte sacht an die Tür von Adamsbergs Büro. Der Kommissar, der mit krummem Rücken auf dem hohen Hocker saß, starrte regungslos auf den Boden. Die junge Frau seufzte. Adamsberg brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf.
»Monsieur le Commissaire«, sagte sie und setzte sich diskret, »wann genau, glauben Sie, ist Lieutenant Retancourt verschwunden?«
»Sie ist Montag nicht gekommen, Bettina, mehr wissen wir nicht. Aber sie kann genausogut Samstag, Sonntag oder sogar schon Freitagabend verschwunden sein. Seit drei oder seit fünf Tagen.«
»Vor dem Wochenende, am Freitagnachmittag, rauchte sie am Empfang eine Zigarette mit dem neuen Lieutenant, dem mit dem hübschen zweifarbigen Haar. Sie sagte zu ihm, daß sie die Brigade ziemlich früh verlassen werde, da sie noch bei jemandem vorbeischauen wolle.«
»Bei jemanden vorbeischauen wolle oder eine Verabredung habe?«
»Ist das ein Unterschied?«
»Ja. Denken Sie nach, Bettina.«
»Ich glaube, sie sprach wirklich von vorbeischauen.«
»Haben Sie noch mehr darüber erfahren?«
»Nein. Sie sind dann beide zum Versammlungsraum gegangen, und ich konnte nichts weiter hören.«
»Danke«, sagte Adamsberg mit einem freundlichen Lidschlag.
»Sie sollten schlafen, Kommissar. Meine Mutter sagt immer, wenn man nicht schläft, zermahlt die Mühle ihren eigenen Stein.«
»Retancourt würde nicht schlafen. Sie würde Tag und Nacht nach mir suchen, ein Jahr lang, notfalls, ohne zu essen und ohne zu schlafen, bis sie mich gefunden hätte. Und sie würde mich finden.«
Langsam zog Adamsberg sich seine Jacke über.
»Wenn jemand nach mir fragt, Bettina, ich bin im Krankenhaus Bichat.«
»Bitten Sie einen Beamten, Sie hinzufahren. So bekommen Sie immerhin zwanzig Minuten Schlaf im Auto. Meine Mutter sagt immer, hin und wieder eine kleine Siesta, das ist das Geheimnis.«
»Alle meine Mitarbeiter suchen nach ihr, Bettina. Sie haben Besseres zu tun.«
»Ich nicht«, sagte Bettina. »Ich fahre Sie hin.«
Von einer Krankenschwester gestützt, machte Veyrenc seine ersten vorsichtigen Schritte im Gang.
»Es geht uns schon besser«, erklärte die Krankenschwester. »Wir haben heute morgen weniger Fieber.«
»Wir bringen ihn in sein Zimmer zurück«, sagte Adamsberg und faßte den
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