Die dritte Jungfrau
hat sie dazu gesagt?«
»Nichts. Sie ist nachdenklich geworden, genau wie du. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß das viel an deiner Ermittlung ändern wird.«
»Außer daß wir jetzt wissen, warum sie die Gräber aufbricht. Und warum sie eine dritte Jungfrau umbringen muß.«
»Glaubst du das?«
»Ja. Angesetzt zu drei gleichen Teilen. Das ist die Anzahl der Frauen.«
»Schon möglich. Hast du die dritte schon identifiziert?«
»Nein.«
»Dann such eine Frau mit schönen Haaren. Élisabeth und Pascaline hatten prachtvolles Haar. Bring mich zu meinem Bett, mein Lieber. Ich kann nicht mehr.«
»Pardon, Romain«, sagte Adamsberg und stand ruckartig auf.
»Macht nichts. Aber wenn du schon dabei bist und in alten Medikationen stöberst, such nach einer für mich, einer, die gegen Zustände hilft.«
»Das verspreche ich dir«, sagte Adamsberg und brachte Romain zu seinem Schlafzimmer.
Stutzig geworden durch Adamsbergs Ton, wandte Romain den Kopf.
»Meinst du das ernst?«
»Ja, ich verspreche es dir.«
45
Das Verschwinden von Retancourt, der nächtliche Kaffee bei Romain, die zärtliche Paarung von Camille und Veyrenc, das Lebendige der Jungfrauen und die wilde Miene von Roland hatten Adamsbergs Nacht schwer erschüttert. Immer wieder war er zusammengezuckt, träumend zwischendurch, daß einer der beiden Steinböcke – aber welcher, der rothaarige, der braunhaarige? – auf dem Berggipfel verunglückt war. Mit Schmerzen und Übelkeit war der Kommissar aufgewacht. Ein informelles Kolloquium, oder eher eine Art Trauersitzung, war am Morgen spontan in der Brigade einberufen worden. Mit gebeugtem Rücken und versunken in ihre Angst, hockten die Beamten auf ihren Stühlen.
»Keiner von uns hat es ausgesprochen«, sagte Adamsberg, »doch wir alle wissen es. Retancourt ist weder verlorengegangen, noch liegt sie in einem Krankenhaus, und sie leidet auch nicht an Gedächtnisschwund. Sie ist in den Händen der Wahnsinnigen. Als sie von Romain wegging, wußte sie etwas, das wir nicht wußten: daß das Lebendige von Jungfrauen die Haare unberührter Frauen sind und daß die Mörderin die Gräber aufgebrochen hat, um den Leichen genau diese Substanz abzuschneiden, die den Zerfall überdauert. Auf der rechten Schädelseite, dextra, die positiver als die linke Seite ist. Danach haben wir sie nicht mehr gesehen. Wir können also davon ausgehen, daß sie, als sie von Romain wegging, etwas begriffen hatte, das sie geradewegs zu der Mörderin führte. Oder das für den Todesengel so beunruhigend war, daß er beschloß, Retancourt verschwinden zu lassen.«
Adamsberg hatte absichtlich das Wort »verschwinden« gebraucht, das ausweichender und optimistischer klang als »umbringen«. Doch er machte sich keinerlei Illusionen über die Absichten der Krankenschwester.
»Mit diesem Lebendigen «, faßte Mordent zusammen, »und allein damit, hat Retancourt etwas begriffen, was wir immer noch nicht begriffen haben.«
»Genau das befürchte ich. Wo ist sie danach gewesen, und was hat sie gemacht, das die Krankenschwester alarmierte?«
»Die einzige Lösung wäre, herauszufinden, was sie begriffen hat«, meinte Mordent und rieb sich die Stirn.
Mutlose Stille machte sich breit, einige hoffnungsvolle Blicke richteten sich auf Adamsberg.
»Ich bin nicht Retancourt«, sagte er mit verneinender Geste. »Ich vermag nicht wie sie zu denken, keiner von Ihnen kann es. Selbst unter Hypnose, im Starrkrampf oder im Koma könnten wir nicht mit ihr verschmelzen.«
Die Vorstellung einer »Verschmelzung« ließ Adamsberg an sein Quebecer Abenteuer zurückdenken, wo seine rettende Vereinigung mit dem beeindruckenden Körper seines großen Lieutenant stattgefunden hatte. Die Erinnerung daran erfüllte ihn mit Schmerz. Retancourt, sein Baum. Er hatte seinen Baum verloren. Plötzlich hob er den Kopf zu seinen regungslosen Beamten.
»Doch«, sagte er halblaut. »Einer von uns kann mit ihr verschmelzen. So weit verschmelzen, daß er weiß, wo sie ist.«
Noch zögernd, war Adamsberg aufgestanden, und wieder verbreitete sich jenes matte Licht über sein Gesicht.
»Die Katze«, sagte er. »Wo ist die Katze?«
»Hinter dem Kopiergerät«, sagte Justin.
»Beeilung, los!« sagte Adamsberg mit lebhafter Stimme, lief von Stuhl zu Stuhl und rüttelte jeden, als wecke er die Soldaten einer schwankenden Armee. »Wir sind Idioten, ich bin ein Idiot. Die Kugel wird uns zu Retancourt führen.«
»Die Kugel?« sagte Kernorkian. »Aber Die Kugel ist ein
Weitere Kostenlose Bücher