Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
gar nicht.«
    Zufrieden setzte Noël sich auf die Bank, während Adamsberg nun seinerseits in dem Gärtchen seine Runden drehte.
    »Über so etwas wird Retancourt Sie wohl kaum ins Vertrauen gezogen haben«, meinte er.
    »Wenn man sich dauernd anschnauzt, erzählt man sich letztendlich allerhand. Sie ist keine Jungfrau, Punkt, aus.«
    »Was bedeutet, daß es die dritte Jungfrau gibt. Irgendwo anders. Und daß Retancourt in der Tat etwas begriffen hat, was wir nicht begriffen haben.«
    »Und bevor wir es erfahren«, sagte Noël, »wird eine Menge Zeit vergehen.«
    »Ein Monat Wartezeit, bevor sie alle ihre Fähigkeiten wiedererlangt haben wird, meint Lariboisier.«
    »Lavoisier«, berichtigte Noël. »Ein Monat für einen Menschen von normaler Konstitution, eine Woche für Retancourt. Komisches Gefühl, wenn ich dran denke, daß mein Blut und Ihres nun durch ihren Körper fließt.«
    »Zusammen mit dem des dritten Spenders.«
    »Was macht er eigentlich, der dritte Spender?«
    »Er züchtet Rinderherden, soweit ich verstanden habe.«
    »Was das wohl für eine Mischung ergeben wird«, meinte Noël nachdenklich.
     
    Das Hotelbett war ein wenig kalt, und sobald Adamsberg die Augen schloß, sah er sich mit abgebundenem Arm ausgestreckt neben Retancourt liegen, und schon überließ er sich auch wieder den schwindelerregenden Gedanken, die sich während der Transfusion in seinem Kopf zu einem Knäuel verfitzt hatten. Retancourts gefärbtes Haar, das Lebendige der Jungfrau, die Hörner des Steinbocks. In diesem Knäuel gab es eine warnende Stimme, die nicht verstummen wollte. Sie hatte etwas zu tun mit dem Blut, das von ihm zu ihr hinüberfloß, Blut, das das Herz des Lieutenant wieder zum Schlagen brachte und sie dem Tod entriß. Und natürlich hatte es etwas zu tun mit den Haaren der Jungfrau. Doch was machte der Steinbock da mittendrin? Das brachte ihm in Erinnerung, daß Steinbockhörner ja nichts weiter waren als stark komprimiertes Haar oder, andersherum, daß Haare ja nur äußerst aufgelockerte Hörner waren. All das war dasselbe. Ja und, was weiter? Er würde sich morgen daran erinnern müssen.

52
    Das schwungvolle Geläut der Kirchenglocken weckte Adamsberg um zwölf Uhr mittags. Kein Heil für Schlafmützen, sagte seine Mutter immer zu ihm. Er rief sofort im Krankenhaus an und hörte sich Lavoisiers Bericht an, und der war positiv.
    »Spricht sie?« fragte Adamsberg.
    »Sie schläft«, sagte der Arzt, »und das wird sie noch eine ganze Weile tun. Ich erinnere Sie daran, daß sie auch ein Schädeltrauma erlitten hat.«
    »Retancourt spricht im Schlaf.«
    »Ja, ab und zu brummelt sie irgendwelches Zeugs vor sich hin. Nichts, was sie mit vollem Bewußtsein sagte, und sehr verständlich ist es auch nicht. Regen Sie sich nicht auf.«
    »Ich bin ruhig, Doktor. Ich würde nur gern wissen, was sie brummelt.«
    »Ungefähr immer dieselbe Platte. Diese berühmten Verse, Sie wissen schon.«
    Verse? Träumte Retancourt von Veyrenc? Oder hatte dieser Mensch sie angesteckt? Schnappte der sich, eine nach der anderen, sämtliche Frauen in seiner Umgebung?
    »Was für Verse?« fragte Adamsberg ungehalten.
    »Die von Corneille, die jedermann kennt: Oh, daß des letzten Römers letzten Seufzer / Ich hören könnte und vor Wonne dann / Noch sterbend hauchen: Das hab’ ich getan! «
    Die einzigen Verse, in der Tat, die auch Adamsberg auswendig kannte.
    »Das ist ganz und gar nicht ihre Art«, sagte er. »Murmelt sie wirklich genau das?«
    »Wenn Sie wüßten, was die Leute unter Einfluß von Beruhigungsmitteln oder während der Narkose alles erzählen, wären Sie verblüfft. Ich habe erlebt, wie tugendhafte Unschuldsengel unglaubliche Obszönitäten von sich gaben.«
    »Sie erzählt obszöne Dinge?«
    »Ich habe Ihnen gerade gesagt, daß sie Verse von Corneille rezitiert. Was nicht allzu erstaunlich ist. Meistens kommen Kindheitserinnerungen wieder hoch, und vor allem Erinnerungen aus der Schulzeit. Sie geht ihre Dramentexte durch, die sie mal auswendig gelernt hat, das ist alles. Ich hatte mal einen Minister, der drei Monate im Koma lag und mir währenddessen seinen gesamten Lehrstoff aus der Grundschule vorgebetet hat, das Einmaleins, die kompletten Zahlenreihen. Er konnte es immer noch ziemlich gut.«
    Während er dem Arzt zuhörte, sah Adamsberg auf ein kleines, ziemlich häßliches Bild gegenüber seinem Bett, ein Waldmotiv, auf dem eine Hirschkuh mit ihrem Kitz unter Laubwerk zu sehen war. Ein »Weibchen mit Jungtier«, hätte

Weitere Kostenlose Bücher