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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Zucker, ruhte sich aus, indem er dem Plätschern des Wassers zuhörte, ein heilsamer Ton, den schon die Mönche im Mittelalter, so wußte er, für seine beruhigenden Kräfte geschätzt hatten. Nachdem auch Noël seine Transfusion hinter sich gebracht hatte, standen die beiden Männer, jeder auf einer Seite des Bettes, und betrachteten die ausgestreckte Masse, die Retancourt war, ungefähr so, wie man ein heikles chemisches Experiment beobachtet.
    »Es wird schon«, sagte Noël.
    »Noch nicht«, antwortete der Arzt.
    Von Zeit zu Zeit rüttelte der ungeduldige Noël Retancourt vergeblich am Arm, um den Vorgang zu beschleunigen, das Blut anzutreiben und das System zu aktivieren, auf daß die Maschine endlich in Gang käme.
    »Verdammt, nun komm schon, Dicke«, sagte er, »beweg dich, streng dich ein bißchen an.«
    Er konnte nicht stumm und reglos dastehen; aufgeregt lief er am Bett auf und ab, rieb Retancourts Füße, um sie zu erwärmen, nahm sich die Hände vor, sah prüfend nach dem Tropf, rubbelte ihren Kopf.
    »Das nützt nichts«, sagte der Arzt schließlich gereizt.
    Der Herzrhythmus auf dem Bildschirm wurde schneller.
    »Da kommt sie«, sagte der Arzt, so wie man die Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof ankündigt.
    »Na los, meine Dicke, streng dich an«, wiederholte Noël wohl zum zehntenmal.
    »Bleibt zu hoffen«, sagte Lavoisier mit jener unbewußten Brutalität der Ärzte, »daß sie nicht als Idiotin aufwacht.«
    Retancourt öffnete ganz leicht die Augen und richtete einen leeren blauen Blick zur Decke.
    »Wie heißt sie? Mit Vornamen?« fragte Lavoisier.
    »Violette«, sagte Adamsberg.
    »Wie das Veilchen«, bestätigte Noël.
    Lavoisier setzte sich auf den Rand des Bettes, drehte Retancourts Gesicht zu sich herum und nahm ihre Hand.
    »Violette, ist das Ihr Vorname?« sagte er zu ihr. »Wenn ja, zwinkern Sie.«
    »Na los, meine Dicke«, meinte Noël.
    »Sagen Sie ihr nicht vor, Noël«, sagte Adamsberg.
    »Es geht hier nicht um Vorsagen oder Nicht-Vorsagen«, sagte Lavoisier genervt. »Sie muß die Frage verstehen. Seien Sie still, verdammt noch mal, sie muß sich konzentrieren. Violette, ist das Ihr Vorname?«
    Es vergingen ungefähr zehn Sekunden, bevor Retancourt unmißverständlich mit den Augen zwinkerte.
    »Sie versteht es«, sagte Lavoisier.
    »Natürlich versteht sie’s«, meinte Noël. »Könnten Sie ihr nicht eine schwierigere Frage stellen, Doc?«
    »Das ist bereits eine sehr schwierige Frage, wenn man von dort zurückkehrt.«
    »Ich glaube, wir stören hier nur«, sagte Adamsberg.
    Lieutenant Noël aber war nicht wie Adamsberg imstande, auf das Geräusch des Springbrunnens zu hören. Der Kommissar beobachtete, wie er auf und ab lief in dem Gärtchen, in dem die beiden Männer wirkten, als stünden sie in der Arena eines kleinen Zirkus’, die von dicht über dem Boden angebrachten blauen Lichtern angestrahlt wurde.
    »Wer hat Sie eigentlich informiert, Lieutenant?«
    »Estalère hat mich vom Restaurant aus angerufen. Er wußte, daß ich Universalspender bin. Er ist die Art Typ, der sich an persönliche Details erinnert. Ob man Zucker in seinen Kaffee tut, ob man Blutgruppe A, B oder 0 hat. Erzählen Sie, Kommissar, ich habe schließlich einiges verpaßt.«
    Auf die ihm eigene Art, das heißt in einer wilden Mischung, faßte Adamsberg die Einzelheiten zusammen, die Noël entgangen waren, seitdem er mit den Möwen ausgeflogen war. Merkwürdigerweise ließ sich der Lieutenant, sonst im Prinzip ein engstirniger Positivist, das Rezept aus dem De sanctis reliquis zweimal zitieren und stellte sich gegen Adamsbergs Auffassung, die dritte Jungfrau aufzugeben; auch witzelte er in keiner Weise über den Penisknochen des Katers oder das Lebendige der Jungfrauen.
    »Wir werden nicht Däumchen drehen und darauf warten, daß diesem Mädchen eine Spritze in den Arm gejagt wird, Kommissar.«
    »Ich habe mich zweifellos geirrt, als ich dachte, die dritte Jungfrau sei schon bestimmt.«
    »Wieso?«
    »Weil ich glaube, daß die Mörderin es letztlich auf Retancourt abgesehen hat.«
    »Aber das ergäbe keinen Sinn«, meinte Noël und hielt im Laufen inne.
    »Warum nicht? Sie entspricht dem, was im Rezept gefordert wird.«
    Noël sah Adamsberg in der Dunkelheit an.
    »Dazu müßte Retancourt allerdings Jungfrau sein, Kommissar.«
    »Ich glaube ja auch, daß sie’s ist.«
    »Ich nicht.«
    »Da wären Sie aber der einzige, der das denkt, Noël.«
    »Ich denke es nicht, ich weiß es. Sie ist keine Jungfrau. Ganz und

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