Die dritte Jungfrau
nichts Gewisses sagen. Aber es handelt sich wahrscheinlich um robuste Frauenschuhe mit flachem Absatz.«
»Bleibt noch der Verschlag«, sagte Justin. »Dort hat sie ihr die Dosis Novaxon gespritzt, bevor sie die Tür hinter ihr zugehakt hat.«
»War in dem Verschlag nichts zu sichern?«
Ein kurzes Schweigen unterbrach Justins Bericht.
»Doch«, sagte er, »die Spritze.«
»Sie machen Witze, Lieutenant. Sie hat doch nicht im Ernst ihre Spritze liegengelassen?«
»Doch. Sie hat sie auf der Erde liegengelassen, ohne Fingerabdrücke, versteht sich.«
»Dann signiert sie jetzt ihr Werk?« sagte Adamsberg und stand auf, als fordere ihn die Krankenschwester offen heraus.
»Genau das nehmen wir an.«
Die Hände im Rücken verschränkt, machte der Kommissar ein paar Schritte in das Brachfeld hinein.
»Sehr gut«, sagte er. »Sie hat soeben eine Schwelle überschritten. Sie glaubt, sie sei unbesiegbar, und sie sagt es uns.«
»Ist ja auch logisch«, sagte Kernorkian, »für jemanden, der bald das ewige Leben schlucken wird.«
»Dafür muß sie sich allerdings erst noch die dritte Jungfrau holen«, sagte Adamsberg.
Estalère ging reihum und goß Kaffee in die Becher, die ihm entgegengestreckt wurden. In Anbetracht der Behelfsmäßigkeit ihres Lagers und da die Milch fehlte, konnte er seine Zeremonie allerdings nicht korrekt ausführen.
»Sie wird sie sich vor uns schnappen«, sagte Mordent.
»Abwarten«, meinte Adamsberg.
Er kam in den Kreis der Beamten zurück und setzte sich im Schneidersitz in ihre Mitte.
»Das Lebendige von Jungfrauen «, sagte er, »ist nicht das Haar der Toten.«
»Romain hatte diese Frage doch schon geklärt«, sagte Mordent. »Die Verrückte hat tatsächlich Haarsträhnen abgeschnitten.«
»Sie hat Strähnen abgeschnitten, um sich Zugang zu verschaffen.«
»Zu was?«
»Zu den wirklichen Haaren des Todes. Zu den Haaren, die nach dem Tod weiterwachsen.«
»Natürlich, mein Gott!« sagte Danglard mit einem Ausruf des Bedauerns. »Das Lebendige. Das, was hartnäckig wächst und weiterlebt, selbst nach dem Tod.«
»Deshalb nämlich«, fuhr Adamsberg fort, »mußte die Krankenschwester ihre Opfer ein paar Monate später wieder ausgraben. Das Lebendige mußte Zeit haben, zu wachsen. Genau das holt sie sich, die zwei, drei Zentimeter Haar, die im Grab aus der Wurzel nachwachsen. Dieses Lebendige ist mehr als ein Sinnbild des ewigen Lebens. Es ist die konkret gewordene Widerstandskraft des Lebens, es ist das, was sich auch nach dem Tode weigert stillzustehen.«
»Ekelhaft«, meinte Noël, womit er dem allgemeinen Empfinden Ausdruck gab.
Froissy räumte das Essen zusammen, das keiner mehr anrührte.
»Und inwiefern hilft uns das, die dritte Jungfrau zu finden?« fragte sie.
»Nachdem wir das erkannt haben, Froissy, können wir das Weitere nun logisch ableiten: welches du zerstoßest mitsamt dem Kreuz, das im Ewigkeitssproß lebt, adiacens in gleicher Menge. «
»Darüber waren wir uns doch alle einig«, sagte Mordent. »Gemeint ist das heilige Kreuz.«
»Nein«, sagte Adamsberg, »das haut nicht hin. Wie schon alles übrige muß auch dieser Abschnitt wörtlich verstanden werden.«
Danglard, schräg auf seinem Autoreifen sitzend, kniff die Augen zusammen, er war in Bereitschaft.
»Im Rezept steht«, fuhr Adamsberg fort, »daß es sich um ein Kreuz handelt, das lebt. «
»Das ergibt erst recht keinen Sinn«, sagte Mordent.
»Ein Kreuz, das in einem Körper lebt, der die Ewigkeit darstellt«, sagte Adamsberg, wobei er jedes Wort einzeln aussprach. »Ein Körper mit Ewigkeitssprossen.«
»Im Mittelalter«, murmelte Danglard, »ist das Tier, das die Ewigkeit symbolisiert, der Hirsch.«
Adamsberg, der sich bis zu diesem Augenblick nicht ganz sicher gewesen war, lächelte seinem Mitarbeiter zu.
»Und warum, Capitaine?«
»Weil die großen Geweihe der Männchen in den Himmel ragen. Weil diese Geweihe zwar absterben, herunterfallen, aber wie die Blätter am Baum jedes Jahr neu sprießen, immer mit einem Sproß mehr und mit jedem Jahr kräftiger. Ein erstaunliches Phänomen, das man mit dem Lebenstrieb des Tieres erklärte. Der Hirsch galt als Abbild des ewigen Lebens, eines Lebens, das immer wieder von neuem beginnt, das stetig wächst, ganz wie sein Geweih. Manchmal stellte man ihn mit Christus auf der Stirn dar, als kreuztragenden Hirsch.«
»Dem das Geweih aus dem Schädel wächst«, sagte Adamsberg. »Wie Haare.«
Der Kommissar strich mit der Hand durch das junge Gras.
»Das
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