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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Geschichte zu Ende, Veyrenc.«
    »Ist das unbedingt nötig?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Und warum?«
    »Weil es unser Job ist, Geschichten zu beenden. Wenn Sie sie beginnen wollen, werden Sie wieder Lehrer. Wenn Sie sie zu Ende bringen wollen, bleiben Sie Bulle.«
    »Ich verstehe.«
    »Klar. Deswegen sind Sie doch hier.«
    Veyrenc zögerte, hob seine Lippe zu einem falschen Lächeln.
    »Die fünf Kerle kamen aus dem Gave-Tal.«
    »Aus meinem Tal.«
    »So ist es.«
    »Na los, Veyrenc. Erzählen Sie die Geschichte zu Ende.«
    »Sie ist zu Ende.«
    »Nein. Die fünf Kerle kamen aus dem Gave-Tal. Sie kamen aus dem Dorf Caldhez.«
    Adamsberg drehte den Türknauf.
    »Kommen Sie, Veyrenc«, sagte er leise. »Wir suchen einen Kiesel.«

12
    Retancourt ließ sich mit ihrem ganzen Gewicht auf einen alten Plastikstuhl in Emilios Café fallen.
    »Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten«, sagte Emilio und kam auf sie zu, »aber wenn man die Bullen hier allzuoft sieht, kann ich die Kneipe gleich dichtmachen.«
    »Finde ein Kieselsteinchen für mich, Emilio, und ich laß dich in Frieden. Ach ja, und drei Bier.«
    »Nur zwei«, unterbrach Estalère. »Ich kann so was nicht trinken«, entschuldigte er sich und blickte abwechselnd den Neuen und Retancourt an. »Ich weiß nicht, warum, aber ich krieg einen Drehwurm davon.«
    »Aber Estalère, den kriegt doch jeder«, sagte Retancourt, noch immer erstaunt über die anhaltende Naivität dieses siebenundzwanzigjährigen Jungen.
    »Ach«, sagte Estalère. »Das ist normal?«
    »Das ist nicht nur normal, es ist sogar der Zweck.«
    Estalère krauste die Stirn, wobei er Retancourt um keinen Preis den Eindruck vermitteln wollte, daß er ihr irgendwas vorwarf. Wenn Retancourt während der Arbeitszeit Bier verlangte, mußte es nicht nur erlaubt sein, sondern sogar ratsam.
    »Wir sind nicht im Dienst«, meinte Retancourt lächelnd zu ihm. »Wir suchen ein Kieselsteinchen. Das hat nichts miteinander zu tun.«
    »Du bist böse auf ihn«, behauptete der junge Mann.
    Retancourt wartete, bis Emilio die Biere gebracht hatte. Sie prostete dem Neuen zu.
    »Willkommen. Ich kann deinen Namen einfach nicht behalten.«
    »Veyrenc de Bilhc, Louis«, sagte Estalère, glücklich darüber, daß er sich seinen vollständigen Namen so schnell eingeprägt hatte.
    »Wir werden Veyrenc zu dir sagen«, schlug Retancourt vor.
    »De Bilhc«, präzisierte der Neue.
    »Liegt dir was an der Adelspartikel?«
    »Mir liegt was an dem Wein. So heißt ein Weinbaugebiet.«
    Veyrenc hob sein Glas zu dem seiner Kollegin, ohne anzustoßen. Er hatte schon viel von den außergewöhnlichen Fähigkeiten des Lieutenant Violette Retancourt gehört, aber im Moment sah er nur eine sehr große und dicke blonde Frau, recht derb, recht lustig, an der nichts war, was ihm eine Erklärung hätte liefern können für die Angst, die Ehrfurcht oder die Ergebenheit, die sie in der Brigade auslöste.
    »Du bist böse auf ihn«, wiederholte Estalère mit dumpfer Stimme.
    Retancourt zuckte mit den Schultern.
    »Ich habe nichts dagegen, in Clignancourt ein Bier trinken zu gehen. Wenn’s ihm Spaß macht.«
    »Du bist böse auf ihn.«
    »Und wenn schon?«
    Estalère, düster, hielt den Kopf schräg. Der Gegensatz, ja geradezu die Unvereinbarkeit zwischen dem Kommissar und seiner Mitarbeiterin hinsichtlich ihres Verhaltens, das sie oft zu Gegnern werden ließ, zerriß ihn schmerzhaft. Die zweifache Verehrung, die er Adamsberg und Retancourt, Leitsternen seines Lebens, entgegenbrachte, duldete keinen Kompromiß. Er hätte keinen für den anderen aufgegeben. Der Organismus des jungen Mannes funktionierte nur mit Gefühlsenergie und schloß dabei jeden anderen Kraftstoff wie Vernunft, Kalkül oder intellektuelles Interesse aus. Wie eine Maschine, die darauf geeicht ist, nur einen Treibstoff in reinem Zustand anzunehmen, war Estalère in dieser Hinsicht ein seltenes und zerbrechliches System. Retancourt wußte das, doch sie besaß weder das Fingerspitzengefühl, sich dem anzupassen, noch hatte sie Lust dazu.
    »Er hat eben seine eigenen Vorstellungen«, beharrte der junge Mann.
    »Die Akte ist was für die Drogenfahnder, Estalère«, sagte Retancourt und verschränkte die Arme.
    »Er sagt nein.«
    »Wir werden diesen Kieselstein nicht finden.«
    »Er sagt doch.«
    Wenn Estalère vom Kommissar sprach, sagte er meistens »Er«. »Er«, »Ihm«, »Ihn«, Jean-Baptiste Adamsberg, der lebende Gott der Brigade.
    »Mach, wie du denkst. Such für ihn diesen Kieselstein

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