Die dritte Jungfrau
Treffpunkt war an der Kapelle in Camalès. Dort sind sie über Sie hergefallen.«
»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben«, knurrte Veyrenc. »Es war auf dem Weinberg, und ich wurde ohnmächtig, dann hat mein Vater mich dort weggeholt, und ich wurde ins Krankenhaus nach Pau gebracht.«
»Das war drei Monate früher. An dem Tag, an dem Ihnen die Stute durchgegangen und über Sie drübergaloppiert ist. Gebrochenes Schienbein, Ihr Vater hat Sie im Weinberg aufgelesen, Sie wurden nach Pau gebracht. Die Stute ist verkauft worden.«
»Das ist unmöglich«, murmelte Veyrenc. »Woher wissen Sie das?«
»Wußten Sie etwa nicht alles, was in Caldhez passierte? Als René vom Dach fiel und wie durch ein Wunder überlebte, haben Sie in Laubazac nichts davon erfahren? Und als das Lebensmittelgeschäft abbrannte, haben Sie etwa nichts davon erfahren?«
»Doch, natürlich.«
»Sehen Sie.«
»Aber Scheiße noch mal, es war auf dem Weinberg.«
»Nein, Veyrenc. Der Galoppritt der Stute und der Überfall der Kerle aus Caldhez, zwei Ohnmachtsanfälle Schlag auf Schlag, innerhalb von nur drei Monaten, zwei Aufenthalte im Krankenhaus in Pau. Sie haben die beiden Orte durcheinandergebracht. Posttraumatische Verwechslung, würde die Gerichtsmedizinerin sagen.«
Veyrenc löste seinen Sicherheitsgurt und beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien. Der Wagen blieb im Stau stecken.
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, nein.«
»Was wollten Sie im Weinberg, als die Kerle ankamen?«
»Ich habe nach dem Zustand der Trauben gesehen, nachts hatte es ein heftiges Gewitter gegeben.«
»Eben das ist unmöglich. Denn wir hatten Februar, und der Weinberg war abgeerntet. Die Stute, ja, das war im November, Sie wollten die Trauben für die Weihnachtsernte kontrollieren.«
»Nein«, wiederholte Veyrenc. »Was ergibt das für einen Sinn? Und wen kratzt es, ob es auf dem Weinberg oder auf der Hochwiese von Laubazac war? Die haben mich überfallen, oder etwa nicht?«
»Ja.«
»Haben mir mit rostigen Eisenteilen den Kopf und mit einer Scherbe den Bauch aufgerissen?«
»Ja.«
»Und?«
»Es zeigt bloß, daß Sie sich nicht an alles erinnern.«
»Ich erinnere mich sehr gut an ihre Visagen, und da können Sie gar nichts dran deuteln.«
»Das bestreite ich auch gar nicht, Veyrenc. An ihre Visagen ja, aber nicht an alles. Denken Sie darüber nach, eines Tages werden wir noch mal darüber reden.«
»Setzen Sie mich irgendwo ab«, sagte Veyrenc mit matter Stimme. »Ich gehe den Rest zu Fuß.«
»Das nützt gar nichts. Wir müssen ein halbes Jahr zusammenarbeiten, und das haben schließlich Sie so gewollt. Wir riskieren nichts, immerhin steht hier ein Kaminschirm zwischen uns. Der wird uns schützen.«
Adamsberg lächelte kurz. Sein Mobiltelefon klingelte und unterbrach den Krieg zwischen den zwei Tälern. Er reichte es Veyrenc.
»Das ist ein Anruf von Danglard. Nehmen Sie für mich ab, Lieutenant, und halten Sie’s an mein Ohr.«
Danglard informierte Adamsberg kurz darüber, daß die Nachforschungen der drei anderen Teams nichts erbracht hatten. Keine Frau, weder alt noch jung, war mit Diala und La Paille gesehen worden.
»Und bei Retancourt?«
»Nicht gerade gewaltig. Das Haus ist verwahrlost, ein paar Rohrleitungen sind im letzten Monat explodiert, das Wasser stand zehn Zentimeter hoch.«
»Hat sie kein einziges Kleidungsstück gefunden?«
»Bis jetzt nicht.«
»Das alles hätte also auch bis morgen warten können, Capitaine.«
»Es ist wegen dieses Binet. Der Typ sucht Sie dringend, hat heute nachmittag schon dreimal angerufen in der Zentrale.«
»Wer ist Binet?«
»Kennen Sie ihn nicht?«
»Absolut nicht.«
»Nun, aber er kennt Sie, sehr gut sogar. Er will Sie höchstpersönlich und dringend sprechen. Er sagt, er habe etwas sehr Wichtiges für Sie. Dem Wortlaut der Nachrichten zufolge scheint es was Ernstes zu sein.«
Adamsberg warf Veyrenc einen ratlosen Blick zu und gab ihm zu verstehen, er möge sich die Nummer aufschreiben.
»Rufen Sie diesen Binet an, Veyrenc, und geben Sie ihn mir.«
Veyrenc wählte die Nummer und hielt den Apparat an das Ohr des Kommissars gepreßt. Man kam aus dem Stau heraus.
»Binet?«
»Nicht gerade leicht, dich aufzuspüren, Béarner.«
Die äußerst energische Stimme des Mannes tönte durch den Wagen, Veyrenc zog die Augenbrauen hoch.
»Ist das für Sie, Veyrenc?« fragte Adamsberg ihn leise.
»Kenne ich nicht«, flüsterte Veyrenc und machte ein Zeichen der Verneinung.
Der Kommissar
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