Die dritte Sünde (German Edition)
doch Whitefell verlassen, als sie sechs Jahre alt war. Sie verstand nicht, warum ihr Vater plötzlich so übermäßig erschüttert auf die Nachricht vom Tode seines Sohnes reagierte. Hatten die beiden sich nicht hoffnungslos zerstritten? Mr de Burgh sah seine Tochter Hilfe suchend an. Er hoffte, wie es schien, auf ihre tröstende Hand. Isobel war aber weit davon entfernt, ihm diese zu gewähren. Lady Craven durchbrach die unangenehme Stille. »Ich bedaure sehr, das zu hören, Mr de Burgh. Sie haben mein vollstes Mitgefühl. Wie grausam muss es für einen Vater sein, seinen einzigen Sohn und Erben zu verlieren!«
Der Angesprochene nickte stumm. Nun rannen dicke Tränen über seine Wangen. Isobel wandte angewidert den Blick ab.
»Wie tröstend muss es dann für Sie sein, dass Sie an dem Tag, da Ihnen die Nachricht vom schrecklichen Verlust Ihres geliebten Sohnes übermittelt wurde, einen neuen Sohn, nämlich Mr Havisham, hinzugewinnen. Ich weiß, das vermag den Schmerz nicht zu lindern, aber mein lieber Mr de Burgh, immerhin haben Sie damit wieder einen Erben.« Lady Craven lächelte aufmunternd.
Isobel hob ruckartig den Kopf. Das war allerdings ein überaus interessanter Aspekt. Das würde ja bedeuten, dass sie Herrin auf Whitefell werden würde. Ihr Herz machte einen Satz. Nun würde sie alles daran setzen, Havisham so schnell wie möglich zu heiraten. Hatte nicht ihr Vater gesagt, dass dieser versprochen hatte, im Falle einer Eheschließung den Familiensitz vor seiner Veräußerung zu retten? Erregt erhob sie sich. »Vater, das Ganze ist natürlich traurig. Trotzdem solltest du so bald wie möglich Mr Havisham mitteilen, dass ich ihn heiraten werde, und das in nächster Zeit.«
»Du wirst doch mit mir nach Whitefell zurückkehren, da kannst du es ihm selbst mitteilen. Er wird uns auf der Fahrt zurück begleiten. Ich sprach mit ihm, bevor ich zu dir kam«, sagte Mr de Burgh, sichtlich um Fassung bemüht. Isobel zögerte. Dann würde ihr ja die Teilnahme an den Krönungsfeierlichkeiten entgehen. Aber angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, war es wohl besser einzulenken. Es war nicht ratsam, den alten Gockel Havisham weiter zu verärgern. Seltsam, dass er mit ihnen zurückfahren wollte. Jedoch, so überlegte sie, Havisham war vor allem ein kluger Geschäftsmann. Die Nachricht vom Tode des Erben von Whitefell würde auch für ihn eine Eheschließung noch attraktiver machen.
Whitefell House, Wiltshire, 20. Juli 1838
Kapitel 34
Isobel betrachtete sich im Spiegel. Das Kleid war ein Wirklichkeit gewordener Traum. Selbst die frischgekrönte Königin Victoria konnte bei der Krönung und den anschließenden rauschenden Feierlichkeiten in ganz London, die die Bevölkerung in einen wahren Begeisterungstaumel versetzt haben mussten, nicht prächtiger gewesen sein. Zumal die Königin selbst ja auch ein leicht pummeliges und eher unscheinbares Geschöpf war, wie hinter vorgehaltener Hand in London gemunkelt wurde. Davon konnte bei Isobel natürlich keine Rede sein. Ihre Schönheit wurde durch das kostbare weiße Kleid mit den üppigen goldgelben Stickereien nur noch unterstrichen. Wütend warf sie den dazugehörigen Fächer auf den Schminktisch neben dem Spiegel. Cathy zuckte zusammen.
»Warum musste mein Bruder ausgerechnet jetzt sterben, der rücksichtslose Mensch? Das ist ungerecht! Hätte er mit seinem lästigen Ableben nicht noch ein wenig warten können«, schimpfte Isobel mindestens zum zwanzigsten Mal an diesem Morgen ungehalten. Cathy senkte den Blick. Sie wusste nicht, wie sie auf Isobels Worte, auch wenn sie nur in der Privatheit von deren Mädchenräumen geäußert wurden, reagieren sollte. Es schien ihr fast ein Frevel zu sein, dessen Isobel sich gegenüber ihrem verstorbenen Bruder schuldig machte. Hatte sie keine Angst davor, sich zu versündigen?
Natürlich zeigte sich Isobel in der Öffentlichkeit angemessen trauernd. Es waren sowohl in der Privatkapelle Whitefells als auch in der Dorfkirche Trauerfeiern für den jungen Herrn abgehalten worden, damit nicht nur die Familie und die Angestellten, sondern auch die Bevölkerung angemessen Abschied nehmen konnte vom Erben der weitläufigen Güter Whitefells. Isobel hatte, wie es von ihr erwartet wurde, ihrem Vater zumindest im Beisein von anderen Trauergästen Gesellschaft geleistet, war mit ernster Miene einhergeschritten und hatte zu den Gottesdiensten und eine Woche danach Schwarz getragen. Dennoch wusste Cathy, die Isobel wie keine andere kannte
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