Die dritte Sünde (German Edition)
doch auch gute Aussichten. Die Vorstellung, als verheiratete und wohlhabende Dame der Gesellschaft in Begleitung von Lady Craven das Leben und Treiben in London zu genießen, ließ ihr Herz höherschlagen. Havisham war ja ein vielbeschäftigter Mann, vielleicht würde es ihr bald gelingen, ihn dazu zu überreden, dass er sie für einen Besuch in London freigab. Sie hatte wirklich nicht vor, bis zum Jüngsten Tag hier in Whitefell festzusitzen. Eine eigene Residenz in London wäre vielleicht eine gute Idee. Isobel schürzte die Lippen. Für ein repräsentatives Stadthaus in London würde sie Havishams nächtliche Bemühungen, die sie bald zwangsläufig über sich ergehen lassen musste, schon ertragen.
In der ihr so eigenen Weise reckte sie ihr Kinn mit entschlossenem Blick ihrem Spiegelbild entgegen und stampfte leicht mit dem Fuß auf, was Cathy, die immer noch mit dem Umstecken des Schleppensaums beschäftigt war, leise seufzen ließ. Isobel blickte ärgerlich auf deren rotes, sorgsam unter dem gekräuselten, weißen Zofenband hochgestecktes Haar. Cathy war nun, auf Geheiß von Mrs Branagh, als Zofe nicht mehr in das übliche graue Kleid, sondern in ein besser geschnittenes, blaues Zofengewand mit weißer Schürze gekleidet, das ihr ärgerlich gut stand. Solange sie hier auf Whitefell lebte – und wie es aussah, würde sie dies zumindest noch eine Weile tun, denn Havisham hatte deutlich gemacht, dass er plante, nach der Hochzeit nach Whitefell überzusiedeln – war Cathy für sie ein notwendiges Übel. Nicht zuletzt, um sich eine gewisse Freizügigkeit zu bewahren. Was für London galt, galt für die ländliche Umgebung keineswegs. Trotz aller tröstenden Worte Lady Cravens war sich Isobel nur zu bewusst, dass auf dem Lande, weit fort von der lebendigen Weltstadt London, es auch für eine verheiratete Frau enge Grenzen in der Bewegungsfreiheit gab. Und da war Cathy nach wie vor der Schlüssel zur Freiheit. Doch irgendetwas hatte sich in Cathys Verhalten seit Isobels Rückkehr aus London verändert. Sie wirkte gegenüber früher einerseits noch schweigsamer und in sich gekehrter, aber da war auch etwas anderes in ihren Augen: eine innere Distanz, eine Nachdenklichkeit, die Isobel früher so nicht bemerkt hatte. War in den Wochen ihrer Abwesenheit etwas mit Cathy geschehen? Die Frage nagte an Isobel und störte ihre Selbstsicherheit. Wenn sie Cathy verlor, wenn diese ihr gar wegliefe, würde es nicht so einfach sein, einen entsprechend verschwiegenen Ersatz zu finden. Sie musste Cathy irgendwie an sich binden, und zwar so lange, wie sie sie brauchte. Schließlich bestand die Gefahr, dass selbst ein so verschrecktes Geschöpf wie Cathy Thomson einmal ihre überaus praktischen Schuldgefühle in den Wind schlagen und fortlaufen könnte. Nachdenklich ließ Isobel ihren Blick auf ihrer Zofe ruhen. Cathy musste wohl Isobels Blick auf sich spüren, denn sie gab sich sichtlich alle Mühe, ihre Arbeit so unauffällig wie möglich zu verrichten, um ihre Herrin nicht unnötig zu reizen. Die roten Locken des verkrüppelten Bruders von Cathy kamen Isobel unwillkürlich in den Sinn. Zufrieden lächelte sie ihr Spiegelbild an: Sie hatte einen Weg gefunden!
Kapitel 35
Endlich hatte Isobel genug gehabt von der mit sichtlichem Genuss zelebrierten Anprobe ihres Hochzeitsgewandes. Für den Tee war Cathy aus ihren Pflichten entlassen. Erleichtert schloss sie die Tür zu Isobels Privaträumen hinter sich und begab sich in die Küche, um dort mit den anderen Bediensteten, deren Pflichten ihnen etwas Zeit ließen, ebenfalls Tee und einen trockenen, mit Kardamom, Honig und Muskat gewürzten Kuchen aus grobem Mehl einzunehmen. Für gewöhnlich war dies vor allem ein Privileg für die Lakaien und Leibdiener der Herrschaft, also auch für sie als Zofe, da diese Mitglieder des Gesindes oft während der Mahlzeiten Dienst tun mussten. Aber manchmal kamen auch die Knechte und Mägde dazu. Vielleicht würde heute auch Aaron in der Küche sein, dachte sie hoffnungsvoll.
Aaron war, seit sie wieder nach Whitefell hatte zurückkehren müssen, der wichtigste, wenn auch nicht der einzige Grund, warum es ihr – und das trotz Isobels Launen – nicht ganz so schwerfiel, ihre ungeliebte Aufgabe als Zofe auszufüllen. Aaron ließ keine Gelegenheit ungenutzt, ihr mit Gesten und aufmunternden Blicken Mut zu machen und kleine Inseln der Freude zu schaffen. Nicht, dass er seine Zuneigung im Beisein der anderen offen gezeigt hätte. Er wusste ja nun, dass
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