Die dritte Sünde (German Edition)
und durch jahrelange Erfahrung jede noch so kleine Geste und Grimasse zu deuten wusste, dass Isobel sich innerlich wand vor unterdrückter Wut. Der Tod ihres Bruders hatte ihr nicht nur ihr Debüt in London empfindlich verhagelt, sondern sie auch noch der berauschenden Aussicht beraubt, in ihrem Kleid für die Krönungsfeierlichkeiten vor dem anwesenden Adel und den Honoratioren aus dem In- und Ausland zu glänzen. Das Kleid war ihr auf Anweisung von Mr Havisham nach Whitefell gebracht worden und eine Angestellte der Londoner Schneiderei Gunther’s war extra mitgekommen, um die notwendigen Anpassungen an dem kostbaren Stück vorzunehmen. Von ihr hatten sie auch eingehende Schilderungen der ausgelassenen Feiern in London zu hören bekommen, was Isobel einerseits mit Neugier, andererseits mit noch mehr Zorn erfüllte. Cathy hatte der erfahrenen Schneiderin bei der Arbeit geholfen und dabei ebenfalls neugierig deren Ausführungen gelauscht. Isobels schlechte Laune war, neben der verpassten Gelegenheit, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren, vor allem darin begründet, dass auch die bald nach der Trauerfeier verabredete Hochzeit Isobels mit Mr Horace Havisham nur in kleinstem Kreise und – aus Gründen der Pietät – ohne die dazugehörigen anschließenden Tanzfeierlichkeiten stattfinden würde. Der legendäre Ballsaal Whitefells würde also bis auf Weiteres ungenutzt bleiben. Zwar sollte das von Mr Havisham bezahlte Kleid, das auch gleichzeitig das Hochzeitsgeschenk darstellte, die junge Braut schmücken, aber die Hochzeit war eben nur ein formaler Akt ohne jeden Pomp im Beisein einiger Verwandter und enger Familienangehöriger von Mr Havisham und dem Earl of Branford. Seine Frau, Lady Branford, ließ sich entschuldigen, da sie selbst zwei Hochzeiten vorzubereiten habe, und Isobels Cousinen hatten kommentarlos abgesagt samt zukünftigen Ehemännern. Wer also sollte Isobel in ihrem spektakulären Gewand bewundern? Zu allem Übel kam auch noch hinzu, dass selbst Lady Craven, deren Teilnahme an der Hochzeit sie fast flehentlich erhofft hatte, nicht beiwohnen konnte. Wütend betrachtete Isobel das Schreiben, dass ihr Mrs Branagh vor nicht ganz einer Stunde heraufgebracht hatte. Dass Lady Craven auch ausgerechnet jetzt krank werden musste! Vielleicht war ihre Freundschaft und Teilnahme auch nur gespielt gewesen und sie wollte sich in Wirklichkeit der Verpflichtung zu einer Reise nach Whitefell entledigen, obwohl sich Isobel das kaum vorstellen mochte. Es konnte doch nur in Lady Cravens Sinn sein, dass sie wieder Kontakt zur Familie der de Burghs bekam.
Erneut griff Isobel nach den in der schwungvollen Handschrift Jemina Cravens verfassten Zeilen.
London, 18. Juli 1838
Meine liebe Isobel,
es bricht mir fast das Herz, Deine Einladung zur Hochzeit mit dem ehrenwerten Mr Havisham absagen zu müssen, aber leider bin ich doch ernsthafter erkrankt. Wie Du weißt, hatte ich ja schon Deine – durch die traurigen Umstände bedingte – verfrühte Abreise aus London sehr bedauert. Nur zu gerne hätte ich Dich an Deinem Festtag in Deinem schönen Gewand bewundert, von dem Du mir erzählt hast. Zu schade auch, dass ich Dich nicht an meiner Seite hatte bei der Krönung Victorias. Wir hätten uns sicher köstlich amüsiert über den versammelten Adel. Doch sei nicht allzu betrübt darüber. Auch wenn alle Welt davon spricht, dass es ein außergewöhnliches Ereignis gewesen sei, eine Krönung, wie sie die Welt noch nicht gesehen habe, so war doch der Mittelpunkt des ganzen Aufstandes kaum einer Erwähnung wert. Die junge Königin ist – man wagt es kaum zu sagen – noch unscheinbarer und ungeschickter, als man gemeinhin munkelt. Lord Melbourne [21] musste sich höchstselbst während der gesamten Feierlichkeiten darum bemühen, unserer jungen Königin zu einem wenigstens einigermaßen majestätischen Auftritt zu verhelfen. Ob seine Ambitionen der jungen Dame gegenüber nur väterlich-wohlwollender und nicht eher amouröser Natur sind, sei dahingestellt. Es gibt Stimmen in London, die dies bezweifeln … Nun, selbst wenn es so wäre, es sei dem jungen Ding gegönnt. Sie hat ja bisher kein allzu schönes Leben gehabt, eingesperrt in Kensington Palace von ihrer herrschsüchtigen Mutter und diesem widerlichen John Conroy [22] , einem unsäglich machtgierigen Menschen. Ich hatte vor einigen Jahren das Missvergnügen, diesen im Rahmen einer Gesellschaft kennenzulernen.
Dennoch – bei allem Mitgefühl für die junge Königin –
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