Die dritte Sünde (German Edition)
Billie. Bewahr es gut auf, damit niemand es dir fortnehmen kann!«
Ehrfürchtig nahm der Junge das Geldstück entgegen. Das war ein ungeheuerlicher Reichtum. »Da… danke, Mrs Havisham!«, stammelte er und steckte die Münze hastig in seine Hosentasche. »Ich verspreche Ihnen, ich werde so schnell laufen wie der Wind.« Dann stürzte er voller Eifer zur Tür hinaus. Isobel lächelte zufrieden. Das war wirklich einfach gewesen.
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»Billie?« Cathy war eilends durch die Zimmer gelaufen und auf den Mittelgang hinaus, in der Hoffnung, ihren kleinen Bruder noch abzupassen, bevor er Whitefell verließ. Sie musste ihn warnen! Isobel heckte zweifellos eine Teufelei aus. Es war völlig absurd anzunehmen, dass der Junge sie auch nur annähernd interessierte oder sie gar Mitleid mit ihm hatte. Was hatte sie nur vor?
Sie hatte Glück! Billie hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, hielt aber inne, als er ihren Ruf hörte. »Was willst du, Cathy?«, fragte er unwillig.
Schnell lief sie zu ihm hinüber. »Billie, was hat Mrs Havisham dir gegeben?«
Sein sommersprossiges Gesicht verschloss sich. »Das geht dich gar nichts an!«, schnappte er. Schon wollte er die Treppe weiter hinunterlaufen, da griff sie nach seinem Arm und hielt ihn zurück. Wütend versuchte er sie abzuschütteln.
»Billie, bitte glaube ihr nicht. Sie ist nicht so lieb, wie sie tut.«
Tränen des Zorns stürzten ihm unvermittelt aus den Augen. »Lass mich!«, schrie er.
»Billie! Ich will dir doch nur helfen!« Auch Cathy war den Tränen nah. Plötzliche Angst schnürte ihre Brust zusammen, Angst um ihren kleinen, hilflosen Bruder.
»Das willst du nicht!«, schrie er, außer sich vor Wut, »du bist bloß eifersüchtig, weil Mrs Havisham jetzt mich gern hat und nicht dich! Lass mich, du bist böse!« Er riss sich los und rannte die Treppen hinunter. »Billie!«, rief Cathy noch einmal. Doch Billie drehte sich nicht einmal nach ihr um.
Kapitel 42
Isobel fieberte seit dem Lunch ungeduldig ihrer heimlichen Verabredung mit Aaron entgegen, doch die Zeiger der mit einem Glaszylinder überwölbten und von vier goldenen Sphinxen getragenen Pendeluhr wollten einfach nicht vorwärtsrücken. Längst schon hatte sie sich umgezogen und blätterte nun gelangweilt in einem Bildband mit Kunstdrucken über die Fauna Indiens, die sie nicht im Mindesten interessierte. Die so kostbare Vorrichtung für die Scheidenspülung und die Flasche mit der Alaunlösung hatte sie längst in einen flachen Korb gepackt – das schien ihr weniger auffällig als ein Beutel – und mit einem Buch und einem kleinen Plaid abgedeckt. Wie gut, dass sie sich auf Cathys absolute Verschwiegenheit verlassen und diese wertvollste aller Qualitäten ihrer Zofe auch bald mit Billies Hilfe zusätzlich sichern konnte. Cathy hatte ihr sowohl Korb als auch Buch und Plaid besorgen müssen und wusste sicherlich, dass zumindest das Buch nur der Tarnung diente. So würde ein zufälliger Beobachter glauben, die Herrin von Whitefell wolle sich an einem hübschen Plätzchen in der freien Natur dem Studium guter Literatur widmen. Isobel lächelte bei dem Gedanken, dass entgegen des Anscheins ihr Interesse sich in Wirklichkeit mehr der Anatomie einer ganz besonderen Person zuneigte. Abgesehen von ihrer Vorfreude auf die neuerlichen Genüsse, die sie mit Aaron auszukosten gedachte, verspürte sie auch einen angenehmen Schauer bei der Vorstellung, ihren lästigen Gatten zu betrügen und damit etwas unbeschreiblich Verbotenes zu tun. Fast wie ein Kind, das umso mehr Vergnügen beim Naschen empfand, wenn es die süße Beute zuvor heimlich aus der Vorratskammer der Mutter gestohlen hatte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Deutlich vor der Zeit machte sie sich auf den Weg. Forsch ignorierte sie den erstaunten Blick Mrs Branaghs, der sie in der Eingangshalle begegnete. »Ich habe mich entschlossen, nach dem anstrengenden Vormittag an die frische Luft zu gehen. Ich werde wohl erst in ein paar Stunden zurück sein«, teilte sie der Haushälterin vorsorglich mit. Was sollte diese auch dagegen einzuwenden haben? Das war eben einer der Vorteile, die sie nun als verheiratete Frau von Stand und Herrin Whitefells genoss.
Erwartungsvoll machte Isobel sich auf den Weg, der sie in Richtung des Wäldchens führen sollte. Der Gang würde nicht mehr als eine Glocke in Anspruch nehmen. Welch ein gut gewählter Ort, um sich zu einem Schäferstündchen zu treffen, beglückwünschte sie sich selbst. Es war nicht zu weit,
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