Die dritte Sünde (German Edition)
Sie hatte Cathy umgebracht! Blut sickerte in einem breiten Strom aus der klaffenden Wunde an deren Stirn. Isobel zitterte beim Anblick der sich ausbreitenden Blutlache noch heftiger als zuvor. Sie war unfähig, sich zu rühren.
Doch dann bemerkte sie plötzlich, dass Cathys Brust sich immer noch hob und senkte. Gott sei Dank, sie lebte noch! Vorsichtig stieß Isobel sie einige Male mit dem Fuß an. Endlich regte sich Cathy ein wenig. Kurz entschlossen griff Isobel nach der Waschschüssel und goss den verbliebenen Rest des Wassers der immer noch Ohnmächtigen ins Gesicht. Das schien deren Lebensgeister zumindest teilweise wieder zu wecken. Unsicher kam sie auf die Knie. »Steh auf!«, befahl Isobel in harschem Ton, hinter dem sie ihre eigene Angst verbarg. »Stell dich nicht so an! Es ist nur ein Kratzer.« Immer noch wachsbleich leistete Cathy dem Befehl so gut es ging Folge. Blut, vermischt mit Wasser, lief ihr über die Stirn ins Auge, über das Gesicht und befleckte ihr Kleid. Es war kein schöner Anblick. Isobel verzog voller Ekel das Gesicht. »Geh!«, sagte sie. Als Cathy nicht gleich reagierte, fuhr sie sie an: »Du kannst gehen. Ich komme hier allein zurecht. Du brauchst erst morgen früh wiederzukommen.« Benommen und verständnislos starrte Cathy sie an. Sie war offenbar immer noch nicht ganz bei sich. Ihre Schürze, ihr Gesicht, alles war besudelt mit Blut. Der Anblick war unerträglich, eine Zumutung! »Geh!«, schrie Isobel. Da endlich ging Cathy, taumelnd und sich an den Wänden abstützend. Isobel schloss erleichtert die Augen. Ihr Zorn war verraucht.
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Cathy wankte hinaus auf den Mittelgang. Alles drehte sich vor ihren Augen und der Boden unter ihr schlug seltsame Wellen. Ihr war so elend und sie sah nicht gut. Da – der Treppenabgang! Hoffentlich schaffte sie es noch bis in ihre Kammer. Sie musste sich unbedingt hinlegen. Doch der Weg dorthin schien unendlich weit.
Als sie die Treppe halb hinuntergegangen war, traten ihre unsicher tastenden Füße ins Leere. Undeutlich nahm sie den Schemen einer anderen Person war, dann begannen sich die Wände zu verzerren …
Thomas fing sie auf. Die gestärkten und mit einem heißen Eisen sorgfältig geplätteten Damasttücher, die er gerade in den kleinen Speisesaal hatte tragen wollen, fielen achtlos zu Boden. Gott sei Dank war er gerade die Treppe heraufgestiegen, sonst hätte sich das hübsche kleine Ding womöglich noch den schlanken Hals gebrochen. Was, um Himmels willen, war nur geschehen? Wer hatte das Mädchen so entsetzlich zugerichtet? Sie sah aus, als wäre sie einem Mörder in die Hände geraten, über und über voller Blut. Sein altes Herz klopfte wild. So etwas war einfach zu viel für einen Mann in seinen Jahren! Kurz stand er da auf der Treppe, stützte die Ohnmächtige und besann sich, was er nun wohl tun sollte. Doch dann siegte seine, wenn auch nur noch schwach vorhandene, männliche Entschlusskraft. Er nahm die Zofe, die glücklicherweise gertenschlank und deshalb nicht zu schwer war, auf die Arme und trug sie hinunter in die Gesindeküche. Mrs Branagh hielt sich gerade dort auf, um die notwendigen Besorgungen für die nächste Woche mit Mrs Reed zu besprechen, wie an jedem Freitag der Woche. Sollte besser sie entscheiden, was zu geschehen hatte.
»Um Gottes willen, Thomas!« Mrs Branagh war ehrlich entsetzt, als der alte Bedienstete mit Cathy, die blutüberströmt und leblos in seinen Armen lag, in die Küche stolperte. Auch Mrs Reed, die nichts so leicht zu erschüttern vermochte, war aufgesprungen.
»Was …?«, keuchte die Haushälterin.
Thomas legte seine Last auf der hölzernen Bank am Gesindetisch ab und fuhr sich erschöpft über die Stirn. »Sie ist mir auf dem Weg zu den Räumen der Herrschaft buchstäblich vor die Füße gefallen. Ich weiß auch nicht mehr.«
Auf Mrs Branaghs Gesicht zeichnete sich noch größeres Entsetzen ab. »Ist etwas mit Mrs Havisham? Schnell, lauf nach oben und sieh nach! Sofort!«, setzte sie nach, als Thomas nicht gleich reagierte. Er war nicht gerade der Mutigste. Womöglich hatten sie ja einen Einbrecher im Haus! Doch dann ermannte er sich tapfer und eilte den Weg zurück, den er gekommen war.
Die praktische Mrs Reed hatte sich schon der bewusstlosen Cathy zugewandt. »Sie hat einen kräftigen Schlag auf die Stirn abbekommen«, stellte sie sachlich fest. Mit Fleisch und Knochen kannte sich die Köchin aus. »Am besten, ich nähe das wieder zusammen, bevor sie zu sich kommt.«
Derlei
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